Im Februar des Jahres unseres Herrn 1070
Es sind zu viele. Ihren blutverschmierten Lanzen werden wir ebenso wenig entkommen wie den gefräßigen Feuern, mit denen sie unsere Häuser und Dörfer niederbrennen. Mag sein, dass sich in diesem Moment die Tore der Hölle für mich öffnen, aber mein Scramasax wird dafür sorgen, dass ich nicht alleine gehe.
Mein Blick wandert über die zerstückelten Leiber, die den Boden bedecken. Das wird ein Fest für die Wölfe werden, wenn sie sich über die Leichen hermachen. Zu wenige sind von uns übrig, um den Gefallenen ein anständiges Begräbnis zu bereiten. Wen sie noch nicht erwischt haben, der wartet nicht den nächsten Angriff ab, sondern rennt um sein Leben. Denn dass sie wiederkommen, ist gewiss. Sie ziehen sich zurück, nur um am nächsten Tag erneut anzugreifen. Ihre schwer bewaffneten Reiter verschonen auch Frauen und Kinder nicht. Sie verbreiten Angst und Schrecken, wo immer sie auftauchen. Von Eoforwic aus wälzt sich eine Feuersbrunst, ein Morden und Zerstören durch ganz Norþhymbre. Sie werden erst Halt machen, wenn sie unseren Willen gebrochen haben und wir uns ihrer Herrschaft unterwerfen – oder wenn sie uns alle ausgerottet haben.
Meine Zunge klebt am Gaumen. Eine gefühlte Ewigkeit haben wir gegen ihre Horden gekämpft und versucht, die wilden Reiterscharen von unserem Leib und Leben, unserem Hab und Gut abzuhalten. Sie sind unerbittlich. Jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, durchbohren sie aus vollem Galopp mit ihren Lanzen oder strecken ihn mit einem gezielten Schlag ihres Schwertes nieder.
Wir stehen hier wie einst Byrhtnoð und seine Mannen, als sie im Jahre 991 unseres Herrn bei Melduna die herannahenden Wikinger zu sich hinüberwaten sahen. Wodon þa wælwulfas, for wætere ne murnon ... Aber unser Gegner fürchtet weder Wasser noch Feuer – und Gott und den Teufel wahrscheinlich ebensowenig. Unsere Waffen vermögen nichts auszurichten gegen ihren unbarmherzigen Blutdurst, den sie hier im Norden jeden Tag an Tausenden unserer Landsleute gierig stillen.
Ich habe bis zuletzt gekämpft, aber jetzt verlässt mich die Hoffnung. Ich kann nicht mehr. Von unseren Waffen tropft das Blut vieler ihrer Reiter und Pferde, aber wir können die Schlacht nicht gewinnen. Ich habe alles verloren. Meine Heimat brennt lichterloh, meinen Vater haben sie grausam hingerichtet, meine Mutter und zwei meiner Schwestern geschändet und erstochen, andere Bewohner zusammengetrieben wie Vieh und niedergemacht, meine drei jüngeren Geschwister sind in den Wald geflohen und leben, aber wie lange noch?
Ich hole tief Luft und stelle den Eimer ab, dessen Feuer nur noch aus wenigen Flämmchen besteht. Mein Blick schweift über die Reiter. Ein weiterer gesellt sich dazu und treibt sein Pferd an, bis es sich in die vorderste Reihe geschoben hat. Auf dem Spann seines Fußes prangt ein großer dunkler Fleck. Der Normanne, mit dem ich in unserer Küche gekämpft habe.
Ich suche das Gesicht unter dem Nasenhelm nach einem Ausdruck der Vergeltung ab, doch er schaut fast gütig zu mir herunter.
Wahrscheinlich genießt er die Vorfreude darauf, dass mich gleich all seine Waffenbrüder vor seinen Augen mit den Speeren durchbohren werden, als Rache für die Wunde, die ich ihm zugefügt habe.
Ein weiterer Reiter gibt einen scharfen Befehl, woraufhin die Versammelten die Pferde zur Seite treiben, um Platz für den Anführer zu machen. Wie ein König sitzt er auf seinem mächtigen Schlachtross und reitet mit hoch erhobenem Kinn vorwärts, bis er unmittelbar vor uns steht. Sein Befehlsschreier stellt sich neben ihn. Beide mustern uns von oben bis unten.
Der Anführer betrachtet mich abschätzig, richtet sich im Sattel auf und spricht zu mir, aber ich verstehe kein Wort. Der Reiter neben ihm fragt in einem fremdländischen Tonfall: „Hwæt is þin nama?“
Sie haben einen Wealhstod, der meine Sprache spricht? Ich mustere den Anführer, ohne den Schild zu senken und das Seil des noch schwach vor sich hin flackernden Eimers loszulassen. Dann recke ich mein Kinn in die Höhe. „Ic hatte Oswulf.“
Der Anführer murmelt etwas.
„Hu eald eart ðu?“, fragt der Reiter.
Mein Blick wandert vom Sprachmittler zum Anführer der Normannen. In seinen Augen sehe ich Mordlust und die Gier nach Blut. Angelsächsischem Blut.
„Ic eom nigontinewintre.“
Ich schaue zu Ulfgar, der mit zusammengekniffenen Augen auf die beiden Sprecher vor uns starrt. Auch er hat Speer und Schild noch erhoben, als würde er jederzeit mit einem Angriff rechnen.
Mein Gegner aus der Küche bahnt sich mit dem Pferd einen Weg an den anderen Reitern vorbei hin zum Anführer. Sie wechseln einige Worte. Der Anführer nickt. Mein Gegner deutet auf seinen Fuß und sieht mich vorwurfsvoll an. Dann wendet er sich an den Sprachmittler. Während er mit ihm redet, geht sein Blick immer wieder zu mir. Nur flüchtig sieht er zu Ulfgar.
Der Sprachmittler stellt meinen Gegner als den normannischen Waffenmeister vor. Er habe mich beobachtet, seit wir in Ledlinghe den Kampf gegen die Männer seines Lehnsherrn aufgenommen haben, und mitangesehen, wie wir zu zweit einige sehr gut ausgebildete Reiter besiegten.
Ulfgar und ich sehen uns verwundert an.
„Ihr seid ein würdiger Kämpfer, junger Angelsachse“, sagt der Wealhstod. „Thibault würde euch gerne auf unserer Seite kämpfen sehen.“
Thibault? Wer ist Thibault? Ich blicke zum Waffenmeister, der fast unmerklich nickt, ohne die Miene zu verziehen. Ein Normanne will, dass ich für ihn kämpfe? Nachdem er und seine Truppen meine Landsleute niedergemetzelt und mein Heimatland verwüstet haben?
Vor Zorn zittern mir die Hände. Ich presse die Finger um den Griff des Schildes und ziehe das Seil mit dem Eimer stramm. „Næfre ic sceal wigan for wuldre Angla banan.“
Der Wealhstod hebt die Augenbrauen. Wie viel er von meinen Worten weitergibt, vermag ich nicht zu sagen. Der Anführer mit Augen wie Eiszapfen rührt sich nicht, und auch in seinem Gesicht ist nicht die kleinste Regung zu sehen. Der Waffenmeister murmelt dem Sprachmittler etwas zu.
„Hwær sind þine ældran, Oswulf?“
„Wo meine Eltern sind? Warum fragt ihr nicht eure Speere und Schwerter, mit denen ihr sie abgeschlachtet habt?“ Wenn sie nicht auf ihren Pferden säßen, würde ich ihnen ins Gesicht spucken. Stattdessen hebe ich den Eimer an und schwinge ihn in immer größer werdenden Kreisen über dem Kopf. „Min fædre wæs Osfrið, Morkere eorles and Haroldes cyninges ðegn, þe ge acwealdon. Sie sind beide tot. Aber ich lebe noch.“
Ein paar Pferde springen mit einem schrillen Wiehern vor dem fliegenden Etwas vor ihren Nasen zurück, doch die Reiter bringen sie schnell wieder in ihre Gewalt. Der Speerkreis um uns verkleinert sich.
„Lieber sterbe ich, als dass ich mein Vaterland verrate“, rufe ich trotzig.