»Bete für die Seelen der verlorenen Kinder«, raunte eine Stimme. »Er holt sie alle.«

Vor mir sah ich nur die Beine der Erwachsenen, und doch klang die Stimme so nah an meinem Ohr. Wo kam sie her?

Ich drehte mich um.

Aus einem verhärmten Gesicht, das von struppigen Haaren und einem zotteligen Bart umrahmt war, starrten mich zwei hervortretende Augen an. Eine knochige, schmutzige Hand griff nach meinem Kleidchen.

Ich wich ein Stück zur Seite und umklammerte die Hand meiner Amme.

»Er holt sie alle.« Die zappelnden Finger kamen näher und näher. Gleich würden sie mich anfassen.

»Katarin!« Ich drückte mich an meine Amme, um der garstigen Hand zu entfliehen.

»Was zappelst du denn so?« Katarin sah mit krauser Stirn zu mir herunter.

»Da ist ein komischer Mann hinter dir.«

Katarin blickte mit einem Seufzer nach hinten, doch der Mann in den zerlumpten Kleidern stand längst neben mir.

»In Machecoul haust eine Bestie, ein Werwolf, der unschuldige Kinder frisst«, flüsterte er.

»Geh weg!«, quetschte ich heraus und drückte mich an die Beine meines Vaters.

Er drehte sich überrascht um und lächelte, als er mich sah.

Ich umschlang seine Beine, als könnte mich das vor der Berührung durch den Fremden schützen. »Der Mann macht mir Angst, Tata.«

Mein Vater nahm eine Silbermünze aus dem Geldbeutel und drückte sie dem Bettler in die Hand. »Tiens, prens! Und nun geh, Yan!«

Dann streckte er mir die Hand entgegen. »Allons, mon enfant!«

Ich nickte und griff eilig zu.

Hinter mir drehte Yan die Münze in seinen Händen hin und her, während er uns zähnefletschend hinterherschaute, als wir auf die geöffneten Pforten der Kirche zugingen.

»Ich gehe, aber ich komme zurück«, krächzte er. »Die Kinder aber kehren nie wieder. Verschwunden, alle, auf ewig.« Mit einem letzten Schrei entließ er uns in die Stille des Gotteshauses: »Hütet euch vor dem Werwolf von Machecoul!«

Mit einem flauen Gefühl im Bauch folgte ich meinem Vater und den anderen zu unseren angestammten Plätzen ganz vorne beim Altar. Immer wieder sah ich mich um, ob Yan uns gefolgt war, und horchte unter dem Gemurmel nach dem unheimlichen Flüstern, das mir noch immer in den Ohren klang, als stünde Yan neben mir. Schließlich fragte ich meinen Vater mit zitternder Stimme: »Tata, wer war der Mann?«

Mein Vater winkte ab. »Eine arme Seele, die hier in Machecoul lebt. Die Leute nennen ihn ›Yan le Fol‹. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Er tut niemandem etwas zuleide.«

»Gibt es hier einen Werwolf?«

»Nein, Mariette.« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Werwölfe. Er wollte dich nur erschrecken.«

»Was ist ein Werwolf, Tata?«, flüsterte ich, während die letzten Besucher durch die Pforte eintraten.

»Ein Tier aus der Märchenwelt, Mariette«, flüsterte mein Vater zurück.

»Frisst ein Werwolf Kinder?«

Mein Vater strich mir über die Wange. »Das sind Erzählungen, Mariette, Geschichten, die kleinen Kindern Angst machen sollen, damit sie artig sind und das tun, was man ihnen sagt. Denk nicht mehr daran.« Er beugte sich zu mir herunter. »Und wenn doch ein Werwolf kommen sollte, dann bekommt er es mit mir zu tun, so wie die Engländer vor Orléans.«

Ich schmiegte mich an meinen Vater und umschloss fest seinen Arm. »Du beschützt mich, Tata. Ich hab dich lieb.«


Die Lieder und die Worte des Priesters ließen mich mein morgendliches Erlebnis schnell vergessen, doch kaum traten wir aus Kirche hinaus auf den Platz, meinte ich, die Stimme schon wieder neben mir zu hören. Ob Yan hier draußen auf uns gewartet hatte? Ob er irgendwo auf der Lauer lag, um sich erneut an uns heranzuschleichen?

Jeden Moment rechnete ich damit, dass er neben mir auftauchte und mir die gruseligen Worte wieder ins Ohr flüsterte, auch wenn ich um mich herum nur die Rücken und Beine derjenigen sah, die wie wir über den Platz vor dem Gotteshaus gingen, um in ihre Häuser zurückzukehren. Vorsichtshalber blieb ich nah bei meinem Vater und Katarin, bis wir unsere Pferde erreichten.

»Wo ist Poitou?« Ich deutete auf den leeren Sattel des jungen Kammerdieners.

»Er hat noch etwas zu erledigen.« Mein Vater wischte sich über das Kinn. »Er wird gleich kommen.«

Ich ließ meinen Blick schweifen. Am Rande des Platzes sprach Poitou mit einem Mann, dessen Arm auf den Schultern eines blonden Jungen lag. Der Mann schaute mehrfach auf das Kind hinunter und nickte schließlich. Mit einem Handschlag verabschiedete sich Poitou, eilte zu uns und stieg wortlos in den Sattel. Mein Vater wechselte einen Blick mit ihm, dann ritt er los, und wir folgten ihm einer nach dem anderen.

Ich schaute mich ein letztes Mal nach der Kirche um. Beobachtete uns da nicht jemand heimlich hinter der Seitenmauer? Ich kniff die Augen zusammen und reckte den Hals, als ein hübscher kleiner Vogel aus einem Baum in der Nähe vorbeiflog. Er landete nicht weit vor uns neben dem Pfad, der zurück zur Burg führte, und hüpfte flatternd und pickend auf dem Boden hin und her.

Wie schnell man als Fünfjährige doch durch kleinste Dinge abgelenkt wird und seine Sorgen von einem Moment auf den anderen vergisst! Doch von der Kirche zurück zur Burg meines Vaters war es nur ein kurzer Ritt, und das Klappern der Pferdehufe auf der hölzernen Zugbrücke, die über den Wassergraben in das massive Eingangstor führte, ließ erneut die Angst in mir aufkommen. Was, wenn der irre Yan die Wahrheit gesagt hatte?

Ich warf einen Blick hinter mich, doch ich konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Keine Spur vom irren Yan und keine Spur von einem Werwolf. Wie so ein Werwolf wohl aussah? Ob er einfach über die Brücke laufen würde, so wie wir gerade darüberritten?

Die Pferde polterten zwischen den dicken Mauern des Tores hindurch und an den Wachen vorbei. Die würden ihn sicher sehen und die Zugbrücke rechtzeitig hochziehen. Dann könnte er nicht in die Burg hereinkommen. Es sei denn, er konnte schwimmen – oder sehr weit springen. Und gut klettern, denn er müsste noch über die riesigen Mauern gelangen. Das konnte er bestimmt nicht. Welcher Wolf konnte schon klettern! Außerdem hatte mein Vater gesagt, dass es gar keine Werwölfe gab und dass er mich verteidigen würde, sollte mich einer fressen wollen. In der Burg und bei meinem Tata war ich sicher.

Doch die Worte des irren Yan ließen mich nicht los, und jedes Mal, wenn ich Kinder sah, musste ich an ihn denken. Und wenn es doch einen Werwolf gab, der hier in Machecoul Kinder fraß?


Eines Abends beobachtete ich aus einem der Turmfenster das bunte Treiben im Hof – ein Gewirr von schwer beladenen Wagen, Reitern und Fußvolk –, als Katarin den Raum betrat.

»Hier bist du«, brummte sie. »Ich habe dich schon überall gesucht.«

Ich überhörte den Vorwurf in ihrer Stimme und richtete die Augen auf zwei erbärmlich gekleidete Kinder, die auf der anderen Seite des Hofes am Eingang der Burg standen. Sie betraten unsicher den Hof und schauten sich um. »Sieh nur die Kinder da, Katarin!« Ich zeigte auf die beiden und sah meine Amme an.

Katarin seufzte und hinkte neben mich ans Fenster. »Ach, die wollen sicher Almosen haben. Dein Vater wird sie schon versorgen – so wie die ganzen anderen Schmarotzer, die er auf seinen Burgen beköstigt.«

Ich blickte in die versinkende Sonne. »Es wird bald dunkel. Warum kommen die Kinder nicht früher?«

»Sind zwei kräftige Jungs. Die können ordentlich mitanpacken bei der Arbeit. Danach haben sie noch genug Zeit zu betteln.« Katarin wandte sich vom Fenster ab.

Ich drehte mich zu ihr um. »Gehen sie im Dunkeln nach Hause?«

Katarin schnaubte und schüttelte den Kopf. »Glaubst du, es kommt eine Kutsche, um sie abzuholen? Jetzt komm! Du musst ins Bett.« Sie winkte mich zur Tür.

Ich warf einen letzten Blick auf den Hof, wo jemand mit den Kindern sprach. »Was ist, wenn der Werwolf sie fängt?«

Sie zuckte zusammen und sah mich an. »Was denn für ein Werwolf?«

»Dieser Mann vor der Kirche; der hat gesagt, es gibt einen Werwolf in Machecoul.«

»Du meinst Yan le Fol?« Katarin lachte auf. »Der ist verrückt. Was glaubst du, warum man ihn so nennt?«

»Er hat gesagt, dass der Werwolf Kinder frisst.«

Sie verkniff den Mund. »Du musst nicht alles glauben, was die Leute reden. Yan weiß nicht, was er sagt.«

»Die Frau hat auch gesagt, dass Kinder verschwinden.«

Katarin trat einige Schritte auf mich zu. »Was denn für eine Frau?«

»Die, mit der du gesprochen hast.«

»Mit der ich …« Die Amme starrte ins Leere, als könnte sie dort sehen, wen ich meinte. »Du meinst eine unserer Waschfrauen, nicht wahr?« Sie fuhr herum. »Du hast uns belauscht!«

Ich schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ihr habt so laut geredet. Ich habe nur zugehört. Du sagst doch immer, dass ich dir zuhören soll.«

Katarin knibbelte an den Fingernägeln und seufzte. »Ja, das sage ich immer …«

»Hat der Werwolf den Jungen gefressen?«

»Was? Nein.« Sie schüttelte abwesend den Kopf und strich sich die Tunika auf den Oberschenkeln glatt. »Nein, hat er nicht, aber es soll hier in der Gegend eine seltsame Alte geben, die in einen schwarzen Umhang gehüllt und mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht durch die Felder und Wälder streift. Einige Leute haben sie beobachtet, wie sie Ausschau hält nach Kindern, die die Schafe hüten oder Holz sammeln. Mit süßen Worten und Versprechungen lockt sie sie weg von der Herde, von ihren Familien und ihrem Zuhause.«

»Was macht sie mit den Kindern?«

»Das weiß keiner, aber niemand hat die Kinder je wiedergesehen. Manche sagen, die Kinder gehen einfach mit ihr mit, ohne zu zögern. Andere berichten von Schreien, die ihrem Auftauchen folgen. Einige behaupten auch, sie hätten Männer mit Ledersäcken gesehen, in denen sich etwas bewegt. Man munkelt, die Alte ist nur eine Dienerin. Die Dienerin eines größeren Herrn.«

Mein Herz pochte so laut, dass mein ganzer Körper bebte. Was machte die böse Frau bloß mit den armen Kindern?

»Wird sie mich auch in einen Sack stecken und mitnehmen?«

»Red doch keinen Unsinn, Kind! Natürlich nicht! Sie holt sich nur die Kinder von armen Bauersleuten, die da draußen alleine sind.«

Ich schüttelte mich.

»Elle m’effraye, m’effraye, m’effraye. Diese Frau ist so böse. Diese … Meffraye.«

Mein Blick ging zum Fenster, meine Gedanken zu den Kindern, die womöglich gerade den Hof wieder verließen.

»Die Kinder müssen heute Nacht hierbleiben! Sonst fängt la Meffraye sie und bringt sie zu ihrem Herrn. Vielleicht ist der Werwolf von Machecoul ihr Herr. Dann werden sie gefressen.« Ich rüttelte an Katarins Arm. »Das dürfen wir nicht zulassen, Katarin! Wir müssen den Kindern helfen.«

»Zieh doch nicht so an meinem Arm, Kind! Beruhige dich! Ihnen wird schon nichts geschehen.«

»Was ist mit dem Werwolf und la Meffraye? Können die Kinder nicht heute Nacht in der Burg bleiben?« Ich umschloss fest Katarins Hand, als wir das Zimmer verließen. »Nur eine einzige Nacht? Wir haben so viel Platz. Und zu essen gibt es auch genug, weil doch bald das Fest ist. Tata wird sicher einverstanden sein.«

Katarin räusperte sich. »Das bezweifle ich nicht.«

»Dann gehen wir ihn gleich fragen! Allons, allons, Katarin! « Ich beschleunigte und zog an ihrem Arm.

»Doulcement!« Katarin versuchte verzweifelt, hinkend mit mir Schritt zu halten, während ich durch die Gänge und Treppen hinunter zur Bibliothek stürmte, wo mein Vater nach dem Abendessen oft noch in seinen Büchern las.

Ohne anzuklopfen, polterte ich durch die Tür und rannte zu meinem Vater. »Tata, Tata! Da sind zwei Kinder im Hof, die heute Nacht auf der Burg bleiben müssen, damit la Meffraye sie nicht fängt und der Werwolf sie nicht auffrisst.«

Mein Vater legte stirnrunzelnd sein Buch zur Seite und hob mich auf den Schoß. »Ich dachte du wärst längst im Bett, Mariette. Und was sind das für Geschichten von Kindern und Werwölfen? Ich habe dir doch schon gesagt, dass das nur Märchen sind, die die Leute erzählen, um Kinder zu erschrecken.«

»Katarin sagt, dass die Alte die Kinder weglockt und dem Werwolf zu fressen gibt. Die beiden Jungen müssen heute Nacht hierbleiben.«

Mein Vater schaute meine Amme an. »So etwas sollte Katarin dir aber nicht erzählen, vor allem nicht kurz vorm Zubettgehen.« Er wandte sich wieder an mich. »Was sind denn das für Jungen, von denen du gesprochen hast?«

Katarin grollte. »Ach, zwei Kinder, die zum Betteln in den Hof gekommen sind.«

»Sie müssen heute Nacht hierbleiben, Tata, damit ihnen nichts geschieht. Bitte!« Ich drückte mich eng an meinen Vater.

»Nun, wenn du das möchtest, Mariette, dann können die beiden die Nacht hier in der Burg verbringen. Ich werde mich nachher persönlich um sie kümmern.«

»Je t’en mercie de tout mon cuer! Du bist der beste Tata der Welt.«

Mit dem guten Gefühl, wenigstens diese zwei Kinder vor la Meffraye und dem Werwolf gerettet zu haben, schlief ich an diesem Abend zufrieden ein.

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