Fluchen wie ein Angelsachse

5. März 2018

Birgit Constant

„Hallo, hier ist wieder Roger aus Wilberfoss. Heute müsst Ihr ein wenig näher kommen, damit Ihr mich versteht. Ich darf nämlich nicht so laut sprechen, weil meine Mutter mich sonst hört. Und dann bekomme ich wieder was zu hören. Und wisst Ihr, warum? Weil sie es hasst, wenn ich unziemliche Wörter benutze.“

„Das mache ich nämlich ziemlich oft – meint zumindest meine Mutter. Ihre Vorfahren haben sich schon vor vielen Generationen zum christlichen Glauben bekehren lassen, aber die Geschichten der alten Götter, wie Wotan, Thor und Freya, sind immer noch lebendig. Wenn es um meine Wutausbrüche geht, macht meine Mutter keinen Unterschied, bei welchem Gott ich mich beschwere. Sie findet es einfach nur schrecklich, wenn ich bei jedem Missgeschick unsere angelsächsische Muttersprache dazu missbrauche, um meinen Ärger hinauszuschreien. Fluchen sei etwas für Bauern, sagt sie, aber nicht für Adlige, egal ob normannisch oder angelächsisch. Außerdem sagt sie, es sei gotteslästerlich, und fürchtet um mein Seelenheil, wenn ich den Namen des Herrn oder – noch viel schlimmer! – eines seiner Körperteile im Zorn benutze. Das ist so, als würde ich Gott in Stücke reißen.“

„Woher sie diese Angst hat, fragt Ihr Euch? Nun, daran ist die Kirche schuld, aber das darf ich nicht laut sagen. Wenn der Priester nämlich in der Messe Brot und Wein mit seinen Worten in den Leib und das Blut Jesu Christi verwandelt, dann davon trinkt und das Brot bricht, um davon zu essen, und es anschließend unter den Gläubigen verteilt, dann bewundern alle ehrfürchtig und demütig diese Macht des Priesters. Wenn aber jemand wie ich ähnliche Worte benutzt, weil er sich gerade den Kopf gestoßen oder beim Spielen verloren hat, dann kann man fast riechen, wie den Leuten die Angst in die Beinkleider rutscht.“

„Meine Mutter tadelt mich zwar, wenn ich solche Schwurformeln und zeremoniellen Sprüche aus Wut benutze, aber sie meint es nur gut mit mir. Viel schlimmer ist es, wenn sie meinen Freund Brandolf dabei erwischt, wenn er mit dem Schimpfen loslegt. Brandolf ist ein Wikinger, und die haben ganz andere Worte dafür, wenn ihnen irgendetwas oder irgendjemand nicht gefällt. Bei ihm reicht ein Wort, um jemanden tödlich zu beleidigen, insbesondere wenn es um die Leistungen eines Mannes auf dem Schlachtfeld oder im Bett geht. Manchmal erschrecke selbst ich mich bei dem, was er sagt, und dann denke ich, dass meine Mutter sich vielleicht doch nicht so viele Sorgen um mich machen muss. Denn meine schlimmen Worte richtet Gott allein, aber bei den Wikingern erlauben gewisse Wörter es dem Beleidigten, den anderen sofort zu töten, ohne eine Strafe oder Vergeltung befürchten zu müssen. Jetzt sagt mir: Wer lebt gefährlicher?“

Über den Autor

Birgit Constant

Birgit Constant ist promovierte Mediävistin, hat elf Sprachen gelernt und arbeitet seit 2014 als freie Autorin, Texterin und Lektorin in Landshut. Sie schreibt historische Romane für Leser, die geschichtlich und sprachlich ins Mittelalter eintauchen wollen. Außerdem hat sie einen Ratgeber für Nachwuchsautoren veröffentlicht, die mit deutscher Bürokratie und Buchmarketing kämpfen.

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