Im Zuge der Recherche für meinen Kurzgeschichtensammelband habe ich mich mit der Gerberei beschäftigt, deren Verfahren sich seit der Antike nicht großartig geändert haben. Die Geruchsbelästigung und die beruflichen Gefahren sind im Vergleich jedoch bedeutend geringer, aber in diesem Beitrag können Sie ganz gefahrlos in die ätzende Welt der Gerber im Mittelalter eintauchen. Also los!
Der Beruf des Gerbers gehörte wie viele andere Berufe, die Sie in meiner Kurzgeschichtensammlung kennenlernen werden, zu den unreinen und verachteten Berufen des Mittelalters. Der Beruf war rein männlich. Frauen beteiligten sich allerhöchstens durch den Verkauf des fertigen Leders oder leiteten vorübergehend als Witwen die Arbeiten, bis der älteste Sohn volljährig wurde, denn Töchter waren wie so oft von der Nachfolge ausgeschlossen.
Der namensgebende Gerbvorgang ist eigentlich nur ein Teil des gesamten Prozesses, Tierhäute in benutzbare Rohmaterialien für Alltagsgegenstände wie Schuhe, Kleidung, Sättel, Trink- und Essbeutel oder auch Pergament zu verwandeln.
Als Erstes besorgte der Gerber sich die Rohhäute vom Metzger, Jäger oder Abdecker und schnitt die untauglichen Teile, etwa Bauchseiten und Achselbereiche, ab. Das beste Leder erhielt man aus der Haut am Rücken bzw. an der Nackenpartie.
Die unbearbeiteten, je nach Alter nicht mehr unbedingt wohlriechenden, Häute wurden gesalzen oder getrocknet, falls sie nicht direkt verarbeitet wurden. Ansonsten weichte der Gerber sie stundenlang in Bottichen mit Wasser und anschließend für einige Tage in Bottichen mit Urin oder Kalkwasser ein, um sie zu reinigen, aufzuweichen und die Haare oder das Fell zu entfernen bzw. zu lockern. In den Fässern mit nackten Füßen herumzustampfen, beschleunigte den Vorgang. Je länger die Häute eingeweicht wurden, umso weicher wurde später das Leder.
Nach einem weiteren Spülgang mussten nun störende Hautbestandteile, Haare, Fleisch- und Fettreste, die anderweitig weiterverwendet wurden, entfernt werden, damit die Gerbstoffe überall und gleichmäßig in die Haut eindringen konnten. Dazu benutzte der Gerber ein hölzernes Gestell namens Schabebaum, auf dem er die Haare auf der einen Seite sowie Fett und Fleischreste auf der anderen Seite mit einem speziellen Messer abschabte. Dieses leicht gebogene Messer mit einem Griff an jeder Seite ist bis heute im Zunftzeichen der Gerber enthalten.
Was nicht abgeschabt werden konnte, wurde danach mit einer Beize aus Hunde-, Hühner- oder Taubenkot entfernt.
Spätestens an dieser Stelle können Sie wohl nachvollziehen, warum mein Protagonist Roger in Der zweite Sohn des Normannen die Nase rümpft, als er durch York reitet und der Wind den Geruch der Gerbereien im Nordwesten der Stadt herüberweht. Aber es gibt ja noch ein weiteres Zückerchen für den Geruchssinn, denn jetzt wurden die derart vorbereiteten Häute endlich in Leder umgewandelt.
Nach einem weiteren Spülgang begann nun nämlich der eigentliche Gerbprozess. Die gesäuberten Häute wurden nun in eine Gerbflotte in einem hölzernen Gefäß – ein Bottich oder eine mit Holz abgedichtete Grube – gelegt. Diese Gerbflotte gab es in zwei Varianten: einerseits die auch als Lohe bezeichnete Flüssigkeit, die aus pflanzlichen Stoffen wie Kastanien- oder Eichenrinde bestand, die dafür in der Lohmühle gemahlen und mit Wasser ausgelaugt wurde; andererseits die bei der Fett- oder Sämischgerbung benutzten Öle und Fette wie Tran oder Hirnmasse, die – erneut mit viel Muskelschmalz – in die Tierhaut eingearbeitet wurden. Für ein sehr hartes und festes Leder kamen die Häute bis zu zwölf Monate, teilweise mehrere Jahre, in immer höher konzentrierte Gerblösungen.

Zum Abschluss spülte der Gerber die behandelten Häute gründlich aus und ließ sie auf Stangengerüsten im Freien oder mit dem Aufkommen großer Städte auch auf dem Trockenboden im Dachgeschoss des Gerberhauses trocknen.
Je nach Bedarf und Gerbmethode musste das fertige Leder durch Walken zum Schluss wieder geschmeidig gemacht werden. Lohgegerbte Leder sind fest, robust und langlebig und daher oft für Schuhe verwendet. Sämisch gegerbte Leder besitzen eine angenehm weiche und samtige Oberfläche und sind auch heute noch beliebt, besonders bei Bekleidungsleder – denken Sie nur an Trachtenmode!
Beim SWR gibt es ein tolles Video zum gesamten Ablauf der Herstellung eines fluffigen Schaffells in einer Gerberei in 13. Generation im Schwarzwald:
Zugegeben, die Produktion dort ist wahrscheinlich um einiges höher als im Mittelalter, aber nur damit Sie eine Vorstellung vom Ausmaß des Wasserverbrauchs in einer Gerberei haben: Die im Video vorgestellte Gerberei Trautwein verbraucht geschätzte 30.000 l Wasser pro Tag. Kein Wunder also, dass Gerberviertel nie weit von einer großen natürlichen Wasserquelle entfernt lagen.