Ein Schlag in den Nacken ließ Lucan zusammenzucken.
»Hast nichts Besseres zu tun, als mit dem Köter zu spielen?«, tönte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Lucan schlang die Arme um das winselnde Hündchen auf seinem Schoß und duckte sich zur Seite. Wieder fuhr die Hand auf seinen Kopf nieder.
»Faulenzn, das kannste!« Seine Stiefmutter stopfte einige Strähnen aus ihrem hochroten Gesicht unter die Spitzenränder ihrer bestickten Haube. »Warum bist nicht bei den anderen, dich auf den Auftritt vorbereiten?«
Genau das könnte ich Euch auch fragen.
Lucan drückte das zitternde Fellbündel an sich.
»Na, wird’s bald?«
Matild holte erneut aus, doch Lucan entwischte ihrer Hand mit einem Sprung. Sie verkniff den Mund und betrachtete Lucan abschätzig.
»Hätt Onfroi doch gewusst, auf wasser sich einlässt, damals! Wat man nich alles verspricht, wenn einer aufm Sterbebett liegt! Kümmern würde er sich um euch zwei, hat er euerm Vater gesagt. Ha! Er und kümmern! Wer tutn das die ganze Zeit? Wer kochtn für euch? Wer wäscht und näht eure Kleider? Na, wer?«
Matilds Kinn zuckte, als wollte sie eine Antwort aus Lucan herauszerren, aber er blieb stumm. Egal, was er sagte, sie würde ihn ohnehin nur wieder einen Lügner und Dummkopf nennen.
»Bei uns arbeitste fürs Essen. Wie wir anderen auch.« Matild hob drohend die Hand. »Na los. Zurück anne Arbeit!«
»Komm, Garulf!«
Lucan drückte das Hündchen an sich und eilte von dannen, hinaus aus dem Innenhof mit der großen Halle, den Wohngebäuden und der Kapelle, und quer durch den östlichen Vorhof, vorbei an Handwerkerhütten, dem Brunnen und den Ställen für Pferde und Hunde.
»Verhungern lassen würde sie dich! Als wenn Sire Robert de Monbrai es merkt, dass ein Stück altes Brot fehlt! Wer in einer Burg mit drei Höfen wohnt, muss auf wichtigere Dinge achten.« Er kraulte Garulf am Kinn und ließ sich bereitwillig von der kleinen rosa Zunge die Hand ablecken. »Wie ist Onfroi bloß an diese Frau gekommen, hm, Garulf? Sicher hat er einen guten Grund dafür gehabt. Nur dass ich ihn noch nicht entdeckt habe.«
Er seufzte, als er neben der Schmiede in den westlichen, äußeren Burgvorhof eintrat, der mit seiner niedrigen Mauer und seinem Gefälle geradewegs ins Meer abzutauchen schien. »Aber wie sollte ich auch? Ich bin nicht nur ungeschickt, ich bin auch dumm.«
Eine herbe Brise wehte in die Burg herein und trug das Rauschen der Wellen vom nahegelegenen Strand bis hier oben hin. Mit einer Hand zog Lucan sein Tuch enger um den Hals und blickte hinaus auf das endlose Dunkelblau, das in weiter Ferne mit dem Hellblau des Himmels zusammenstieß. Er atmete tief ein. Die Luft schmeckte befreiend, auch wenn Lucan als Jugleur den Wind mit Vorsicht genießen musste. Sein Vater hatte immer gesagt, dass für einen Menestral und auch einen Jugleur die Stimme ein kostbares Gut war, das es unter allen Umständen zu schützen galt. Seine Mutter hatte ihm eigens dafür das Tuch gearbeitet, das er seit ihrem Tod nicht nur bei kaltem Wetter und starkem Wind, sondern zu jeder Jahreszeit um den Hals trug – auch als Erinnerung an das, was einmal gewesen war und von dem ihm nur das Tuch, sein Bruder und Garulf blieben.
»Lucan!« Baldwin landete nach mehreren Rädern und einem Überschlag rückwärts nur wenige Schritte vor ihm. »Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst.« Er strich Garulf über das Köpfchen.
»Ich habe etwas Brot für Garulf besorgt. Eine der Mägde hat es mir heimlich zugesteckt.«
Baldwin grinste breit. »Konnte meinem großen Bruder nicht widerstehen, hm?«
»Ihm konnte sie nicht widerstehen.« Er drehte Garulf zu sich. »Wer könnte jemandem mit solch einem Blick etwas verwehren?«
»Ach, der Hund ist doch nur ein Vorwand. Hast du mal drauf geachtet, wie die Frauen dich mit den Augen auffressen, wenn du ihnen Münzen aus den Haaren zauberst, hm?«
»Hör auf, Baldwin! Du weißt, dass das nicht stimmt. Matild sagt auch, dass ich nicht gut genug bin. Nie werfe ich die Kegel ausreichend hoch in die Luft, meine Zaubereien findet sie albern und leicht zu durchschauen, und ich rede viel zu viel mit einzelnen Zuschauern.«
»Hör nicht auf sie! Du bist der beste Jugleur, den ich kenne.«
»Danke, Baldwin, aber du kennst ja nicht viele, mit denen du mich vergleichen kannst. Ich muss einfach einsehen, dass Matild recht hat.«
»Was weiß Matild denn schon! Denk doch nur daran, wie sie auf dich schimpft, wenn die Leute bei ihrem Gesang loslachen. Sie meint, das liegt daran, weil du dich auf der Fiedel verspielst, dabei kommt es davon, dass sie selbst kaum einen Ton trifft.«
Lucan lächelte wenig überzeugt und setzte Garulf neben der großen hölzernen Truhe ab, die an der hohen Nordmauer stand. Er nahm sich drei etwa faustgroße Bälle aus der Truhe und seufzte erneut.
»Aluns!« Baldwin klopfte ihm auf die Schulter, dass Lucan fast einen Ball zu weit zur Seite geworfen hätte. »Du liebst es doch, Jugleur zu sein. Wenn du mit Fiedel, Liedern, Kunststücken und Zaubereien die Menschen unterhalten kannst und sie dich mit großen Augen beobachten. Vor allem die Frauen.«
Er hockte sich hin, machte eine Rolle rückwärts und drückte sich hoch in einen Handstand.
Lucan nahm einen vierten Ball in den Wurfreigen auf. »Schon, aber es ist nicht die Liebe zu meinem Beruf, die mich durch das Land treibt. Seit Vaters Tod haben wir keine andere Wahl. Hätten die Escoz nicht vor zwei Jahren die Burg überfallen, wäre er jetzt immer noch Menestral dort.«
»Immerhin sind wir mit dem Leben davongekommen.« Baldwin sprang zurück auf seine Füße und richtete sich auf. »Als einzige.«
»Ich weiß, ich sollte Gott dafür danken.« Die Bälle schwirrten über Lucans Kopf. »Aber wir müssen ständig von einem Ort zum nächsten ziehen auf der Suche nach Zuschauern, Essen und einem Dach über dem Kopf. Wie gerne würde ich all dem entfliehen, vor allem meiner tyrannischen Stiefmutter.«
Vom anderen Ende des Platzes schallten Töne herüber, die nicht immer, aber immer wieder an einen brunftigen Hirsch, ein aufgeschrecktes Wildschwein oder ein vorsichtiges Rotkehlchen erinnerten. Matild gab sich offensichtlich ihren Stimmübungen hin.
»Du wirst dich doch nicht von dem alten Drachen unterkriegen lassen!« Baldwin machte eine Luftrolle rückwärts. »Gerade du solltest wissen, dass echte Helden Unholde und wilde Bestien bekämpfen. Außerdem: Wo willst du hin und wer kümmert sich dann um mich und Garulf?«
Der fünfte Ball flog nach oben. »Garulf würde sie als Erstes beseitigen; den würde ich mitnehmen.«
»Und was ist mit mir?«
»Dich kann sie genauso wenig leiden wie mich. Vier eigene Kinder sind Matild genug. Sie will nicht auch noch zwei fremde am Rockzipfel hängen haben.«
Mittlerweile wirbelte Lucan sechs Bälle in verschiedenen Richtungen durch die Luft, unter seinem Bein durch und hinter seinem Rücken her, und je mehr Garulf bellte, umso tollkühner wurden die Sprünge und Drehungen, die Lucan zwischen dem Auffangen vollführte. Sein Hund verstand es wirklich, ihn zu Höchstleistungen anzufeuern!
»Halt’s Maul, Töle!«, keifte Matild von der anderen Seite.
Für einen Augenblick schaute Lucan zu ihr hinüber und achtete zu spät wieder auf die Bälle in der Luft. Zwei fing er gerade noch, aber die anderen polterten auf ihn nieder wie der Unrat, den die Städter aus den Fenstern zu schleudern pflegten. Lucan senkte den Kopf und wartete, bis der Bälleregen aufgehört hatte.
»Kannstnich aufpassen?« Matild stampfte auf Lucan zu. Garulf bellte kurz, brachte sich aber dann hinter Lucans Beinen in Sicherheit.
Der kleine William kam angerannt und reichte Lucan einen Ball, der bis zu ihm hinuntergerollt war. »Das war lustig, Lucan! Kannst du das noch mal machen? Si te plest!«
Lucan verbeugte sich tief und nahm lächelnd den Ball von dem Knirps in bunter Verkleidung entgegen. »Jo vus en mercie bonement, munsire.«
William schaute verlegen hoch und kicherte. »Naaain. Ich bin doch kein Munsire, Lucan.«
Lucan spürte einen Schlag auf dem Hinterkopf und stolperte nach vorn.
»Stehtda nich rum, ihr Faulpelze, sonst könn wir gleich morgen wieder weiter.« Matild schubste Baldwin zur Seite und verpasste Lucan noch eine Ohrfeige. »Macht, dass ihr anne Arbeit kommt!«
William ergriff die Tunika seiner Mutter. »Si vus plest, duce mere –«
»Nich jetzt, petit.« Matild tätschelte ihrem Jüngsten die Wange. »Geh fein üben.«
Sie schaute Lucan grollend an. »Wennich früher gewusst hätt, wie unnütz ihr zwei seid, hätt ich euch aufm Markt angeboten. Hätt ich schönes Geld für bekomm. Zwei junge, kräftige Sklaven. Ach!«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung drehte sie sich um und stampfte zurück zu Fulcred und Emma, die ihre Instrumente abgesetzt hatten und mit verkniffenen Mündern dastanden.
»Glaubst du, sie hätte das wirklich getan?«, fragte Baldwin.
»Zutrauen würde ich es ihr«, antwortete Lucan. »Aber ich glaube kaum, dass Onfroi das zugelassen hätte.«
»Hagurnele«, knurrte Baldwin.
»Teis toi!«, gellte Matilds Schrei herüber. »Oder ich prügel dich, bis du’s Maul hältst.«
Lucan und Baldwin grinsten sich verstohlen an und kehrten dann mit so ernsten Gesichtern wie möglich zurück an ihre Übungen, bevor Matild vor Zorn platzte.
Nach dem Gottesdienst sammelte Onfroi auf dem Platz vor der Kapelle seine Familie um sich, um ein letztes Mal den Ablauf des Abends durchzugehen.
Garulf stürmte schwanzwedelnd auf Lucan zu, der ihm befahl, sich brav neben ihn zu setzen und zuzuhören. Der Hund tat, wie ihm geheißen, und schaute gespannt und mit heraushängender Zunge hoch zu Onfroi.
Matild rollte mit den Augen.
»Kinder«, begann Onfroi und ließ seinen Blick durch die Runde schweifen, »ihr wisst, wie wichtig dieser Tag für uns alle ist. Der Comte de Northumberland ist ein einflussreicher Baron, und seine Gäste wichtige Adlige aus ganz Nordengland. Wenn ihnen heute Abend unsere Kurzweil gefällt, werden sie uns mit Freuden an ihre Höfe einladen. Vielleicht nur für einen Abend, vielleicht – und ich bete zu Gott, dass es so sein möge – für länger. Einige Tage, Wochen, Monate?«
»Können wir jetzt gehen?« William trat von einem Beinchen aufs andere und schaute sehnsüchtig zur großen Halle hin.
Emma beugte sich zu ihrem kleinen Bruder hinunter und legte den Finger auf die Lippen. »Chut! Oz, petit!«
»Ich weiß, ihr bemüht euch bei jeder Vorstellung, aber dieses Mal müsst ihr wirklich euer Bestes geben. Nur so können wir darauf hoffen, dass wir auf längere Zeit versorgt sind und nicht mehr herumreisen müssen.«
Nicht mehr herumreisen.
Lucans Herz machte einen Luftsprung. Das war genau das, wovon er seit zwei Jahren träumte! Nicht ständig alles zusammenpacken und weiterziehen zu müssen und dabei niemals zu wissen, wann und wo es sich wieder lohnte, die Menschen mit Singen, Musik, Kunststücken und Zauberei zu unterhalten. Immer auf der Suche nach Essen und einem sicheren, sauberen und warmen Schlafplatz. Wie er sein jetziges Leben hasste! Er wusste ja aus eigener Erfahrung, dass es auch anders sein konnte.
»Können wir jetzt gehen?« William schaute seinen Vater mit großen Augen an.
Onfroi lächelte und tätschelte seinem Nesthäkchen die Eselsmütze. »Aluns!«
Als müsse er die Aufforderung unterstreichen, bellte Garulf, sprang auf und setzte sich für die wenigen Schritte vom Platz vor der Kapelle bis zur großen Halle an die Spitze der Gruppe. Dort fanden heute Abend die Feiern zu Ehren der Auferstehung des Herrn Jesu Christi statt, und schon seit Tagen trudelten Reiche, Ritter und Adlige auf der Burg ein, um den Festivitäten beizuwohnen – und natürlich, um sich die erlesenen Speisen und Getränke schmecken zu lassen, die der Burgherr seinen Gästen zu einer ähnlich reichhaltigen Unterhaltung anbieten würde.
Je näher sie dem Gebäude kamen, umso mehr breitete sich ein Kribbeln in Lucans Magengegend aus.
Es ist wichtig, dass alles so gelingt, wie wir es geprobt haben. Ich muss wirklich gut sein.
Sein Blick wanderte ängstlich zu Matild, die mit großen Schritten und stolz erhobenem Haupt in das Gebäude eintrat.
Hoffentlich stelle ich mich bloß nicht wieder so ungeschickt an!
Die hohen Herren und Damen saßen bereits an den festlich geschmückten Tischen und ließen sich die Krüge füllen, während sie auf die herrlich duftenden Speisen warteten, die eine nach dem anderen aus der Küche auf die Tische wanderten.
Garulf bellte, als wollte er das Ankommen der Spielleute ankündigen, aber in dem Stimmengewirr ging das Geräusch unter. Als einer der großen Jagdhunde des Gastgebers neugierig den kleinen Hund beschnüffelte, verstummte Garulf vollständig und tippelte schnell zu Lucan zurück. Der nahm seinen kleinen Freund auf den Arm und betrachtete die Menschen, vor denen er gleich seine Künste zur Schau stellen würde.
»Solche Mengen!« Lucan wischte sich über den Mund und überlegte für einen Moment, ob er damit die Anzahl der Leute oder die der aufgetragenen Gerichte meinte. Er leckte sich die Lippen, während er nach der appetitlichsten Speise Ausschau hielt und sein Blick dabei an der jungen Dienerin hängenblieb, die gerade eine gut gefüllte Platte auf einem der Tische abstellte. Sie richtete sich auf und lächelte ihn an.
Lucan lächelte zurück, und sie schlug die Augen nieder.
Garulf bellte und schaute Lucan neugierig – oder war es vorwurfsvoll? – an.
Lucan schluckte und sah sich hektisch um. Niemand schien bemerkt zu haben, wie er die junge Frau angestarrt hatte. Sie zwinkerte ihm zu und eilte zurück in Richtung Küche.
Lucan sah zu Boden. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Seine Stieffamilie brauchte ihn, den Jugleur, den Zauberer, der das Publikum hautnah in die Vorstellungen einbeziehen konnte.
Er warf einen letzten Blick auf den Ausgang, der zur Küche führen musste, doch die schöne Dienerin blieb verschwunden. Seufzend setzte er Garulf ab und folgte Baldwin und Fulcred durch die Menschenmenge.
Ein Mann in einer fein gewebten, tannengrünen Wolltunika wies ihnen einen Tisch etwas abseits der anderen Gäste zu, und Lucan stellte mit großer Freude fest, dass man ihnen bereits Schüsseln mit Suppe und Brot sowie volle Krüge hingestellt hatte. Selbst wenn keiner der Anwesenden sie an diesem Abend für eine Vorführung an den eigenen Hof einladen sollte, so konnten sie sich zumindest heute satt essen und mit vollem Magen schlafen legen.
Sie hatten bereits Platz genommen, als Custance, die älteste Tochter von Onfroi und Matild, zu ihnen stieß.
»Ich dachte schon, ich komme zu spät.« Sie drückte sich auf die Bank neben Lucan und Baldwin.
Aus den Augenwinkeln sah Lucan, wie zwei der Männer am Nebentisch jede von Custances Bewegungen verfolgten. Er blickte zu Custance, doch die schien davon nichts zu bemerken, sondern warf ihre langen Haare über die Schulter und plauderte fröhlich weiter.
»Die Heilerin hier auf der Burg ist eine sehr gelehrte Frau. Sie hat mir einige ihrer Kräuter und Heiltränke zur Behandlung seltener Krankheiten gezeigt. Das letzte Mädchen, das ihr zur Hand ging, hat vor einigen Monaten geheiratet. Seitdem macht sie ihre Arbeit wieder alleine. Sie sagte, sie könnte eine tüchtige Helferin gut gebrauchen.«
Custance brach sich ein Stück Brot ab und schaute ihre Eltern abwartend an.
»Das kann deine Mutter auch, Custance.« Onfroi lächelte gequält und nahm einen Löffel Suppe.
»Wir könnten das Geld gut brauchen.« Seine Tochter stippte das Brot in die Suppe. »Ich kenne viele heilsame Kräuter und Pflanzen. Ich weiß, wie ich daraus Tränke und Salben für allerlei Leiden herstellen kann. Auch Wunden und Verletzungen habe ich schon behandelt. Ich könnte einen guten Lohn fordern für die Arbeit.«
»Ich weiß, Custance.« Onfroi führte erneut den Löffel zum Mund. »Aber deine Mutter braucht dich, und wir können nur schwer auf deine Heilkünste verzichten, wenn wir im Land herumziehen.«
»Aber Vater –«
»Ich binnich mehr so jung wie früher.« Matild schaute so mitleiderregend drein wie möglich. »Du kannst mich doch nicht alles alleine machen lassen: die ganze Wäsche waschn, Essen kochn, abwaschn, nähn. Als Älteste musste mir zur Hand gehn, bis wirn Mann für dich finden.« Sie setzte den Löffel an die Lippen und schlürfte die Suppe herunter.
Lucan senkte den Blick und rührte in seiner Schüssel herum. Er wusste, wie sehr Custance an ihrer Arbeit hing. Viele, denen sie geholfen hatte, lobten ihr Wissen und ihre Heilkünste. Als Helferin einer weisen Frau auf der Burg hätte sie es gewiss besser als bei ihnen auf dem klapprigen Wagen, aber wer würde sich dann um die Krankheiten und Wunden kümmern, wenn nicht sie? Emma kannte sich damit genauso wenig aus wie ihre Mutter, und die Jungen sorgten eher dafür, dass es Custance nie an Arbeit mangelte. Vor allem Baldwin und William, die als Saillurs die halsbrecherischsten Kunststücke zeigten, waren ständig bei Custance in Behandlung, manchmal auch Emma, wenn sie heimlich bei irgendwelchen Turnereien mitmachte, obwohl sie als Musikerin auf ihre Finger und Hände natürlich besonders achten musste. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde sie längst als Sailleresse auftreten, aber Matild hatte sie stattdessen gezwungen, Flöte, Dudelsack, Harfe, Crwth und eine ganze Reihe anderer Instrumente zu lernen.
Während Lucan die Suppenreste auskratzte, schaute er sich die Menschen an den anderen Tischen an; jene, die am Ende des Mahls sein Publikum sein würden. Da gab es den dunkelhaarigen Bären von Gastgeber, Robert de Monbrai, dessen donnerndes Lachen man selbst bis hier hinten hören konnte, wenn nicht gerade alle auf einmal redeten. Außerdem die vielen Edelleute, in feine, leuchtende Seidenstoffe gekleidet, die sich gegenseitig zuprosteten und sich angeregt unterhielten.
Über was wohl? Was redet man als Angehöriger einer Schicht, die so sorgenfrei in den Tag hineinleben kann wie die normannischen Barone und ihre Familien?
Über eine Antwort nachdenkend, ließ er den Blick weiterschweifen, vorbei an Frauen mit weißen Schleiern und ebenso weißer Haut, die wie Perlmutt schimmerte – neben den Juwelen und Goldringen, die Finger, Arme und Hals schmückten.
Lucan betrachtete seine Geschwister. Ihre Haut, genau wie seine eigene, hatte auch im Winter immer die Farbe eines aufgeschnittenen Baumstamms. Im Winter war sie heller, im Sommer dunkler, weil dann viele ihrer Auftritte draußen unter freiem Himmel, auf Kirchplätzen und Märkten, bei Hochzeitsfeiern, Erntedankfesten und dergleichen, stattfanden.
Zwei Männer grinsten ihn an. Ihre Lippen bewegten sich, dann lachten sie und drehten sich weg.
Lucan runzelte die Stirn und sah an sich hinunter. Hatte er zu eifrig den Löffel geschwungen und sich seine knielange Tunika besudelt? Er konnte keinen Fleck auf dem blauroten Stoff entdecken und wusste auch sonst nicht, warum die beiden ihn ganz offensichtlich auslachten.
Was gibt es da zu lachen, ihr Narren?
Lucan musterte die beiden. Doch so sehr er auch nach irgendeinem Mangel an ihrer Kleidung oder ihrer Haltung suchte, fand er nichts, an dem er hätte Anstoß nehmen können.
Sie lachen über mich, weil sie Barone sind. Weil sie die Vorzüge des Adels genießen, aus goldenen Kelchen trinken und von silbernen Tellern essen. Ich bin nur ein Jugleur, ein Nichts in ihren Augen. Ich diene ihrer Unterhaltung, aber ansonsten bin ich zu nichts zu gebrauchen. Ich bin kein Ritter wie sie und kann nicht für den König kämpfen. Ich bin kein frommer Kirchenmann wie die Mönche, die Gott mit ihren Gebeten dienen. Ich bin kein Bauer, der sich um ihr Getreide, ihr Vieh und ihr Land kümmert. Meiner Hände und Gedanken Arbeit ist nutzlos für sie, außer dass es sie nach dem Essen bei Laune hält, bis sie ihre vollen Bäuche in ihre weichen Federbetten zurückschleppen und dort süß und selig in den zarten Armen ihrer Liebsten einschlafen.
Lucan verpasste der Schüssel einen Schlag, dass diese auf dem Tisch hin und her wackelte.
William lachte los und zeigte auf das Gefäß, das langsam wieder auf seinem Boden zur Ruhe kam. »Regardez! Lucan und sein tanzender Teller! Haha!«
Lucan warf ihm einen bösen Blick zu, aber der Kleine trug ja keine Schuld daran, dass die Barone sich lustig machten. Etwas dagegen tun, konnte Lucan ohnehin nicht. Sie waren auf das Wohlwollen der Adligen angewiesen, wenn sie für ihre Auftritte mehr als nur wie üblich ein paar Äpfel, ein Stückchen Wurst und ab und zu ein paar Kupfermünzen bekommen wollten.
Seufzend zog Lucan die Schüssel wieder zu sich, als er merkte, dass ihn jemand beobachtete.
Auf einer der Treppen, die aus der großen Halle in die Schlafgemächer der Herrschaften führten, saß jemand. Ein Kerlchen, nicht viel größer als der kleine William, mit zweifarbiger Tunika, die unten in spitzen Zungen endete. Auf dem Kopf trug er eine passende Haube mit drei ohrenähnlichen Zipfeln. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein Stöckchen, auf dem das Oberteil einer Puppe steckte, die ebenfalls bunt kostümiert war und eine dreizipfelige Haube trug.
Der kleine Mann lächelte. Es war kein freundliches Lächeln, aber auch kein feindliches. Eher … geheimnisvoll, als wüsste er etwas, das Lucan nicht wusste. Vielleicht lag auch ein wenig Überheblichkeit darin, denn das Männchen hatte eine seiner dunklen Augenbrauen hochgezogen. Es sah aus, als krabbelte ihm eine dicke Raupe auf der Stirn herum.
»Das muss der Hofnarr sein«, raunte Baldwin Lucan zu.
Das Lächeln des Narren war wie eingefroren. Er saß da und betrachtete die beiden Jungen.
»Bist du sicher, dass er nicht ausgestopft ist?«, fragte Lucan. »Er bewegt sich überhaupt nicht, aber er beobachtet uns.«
Baldwin lachte auf. »Hast du etwa Angst vor dem Pimpf? Der reicht dir ja nicht mal bis an die Schulter!«
»Mag sein, aber sein Blick beunruhigt mich irgendwie. Als wenn er etwas vorhätte. Mit uns, mit mir. Vielleicht will er unsere Vorstellung sabotieren, weil er Angst um seine Stellung hier am Hof hat.«
»Warum sollte er Angst haben? Er ist ein Narr. Er ist lustig, er hält den Baron bei Laune. Aber was kann er schon sonst? Kann er singen, die Fiedel spielen, Gegenstände in die Luft werfen und wieder auffangen, sich in der Luft überschlagen –«
»Schon gut, schon gut! Du hast ja recht.«
Lucans Blick ging erneut zur Treppe. Der Narr war verschwunden.
Viel Zeit darüber nachzugrübeln, wo das Männlein sich versteckt hatte, blieb Lucan nicht. Unter dem erneuten Klang von Flöten, Pfeifen und Trommeln einer Musikergruppe fand der nächste Gang seinen Weg zu ihrem Tisch, und der köstliche Duft von gebratenem und mit Honig glasiertem Lammfleisch und deftigem Kohlgemüse brachte Lucan schnell auf andere Gedanken.
Als zum Nachtisch Schalen mit süßem Obstkompott und Getreidepudding aufgetischt wurden, gab ein Diener Onfroi Bescheid, dass er sich bereithalten sollte, um seinen Teil zur abendlichen Unterhaltung beizutragen.
Baldwin strich sich zufrieden über den gefüllten Bauch: »Kopfstände und Überschläge muss ich wohl heute rauslassen, sonst kommt mir das Essen hoch.«
»Bloß nicht!« Lucan tätschelte Garulf, der zwischen seinen Füßen lag und zufrieden an einem Knochen nagte. »Wer weiß, wann wir wieder so herrlich essen?«
Onfroi erhob sich, begrüßte die Zuschauer und bedankte sich für das festliche Mahl und die freundliche Aufnahme durch Sire Robert de Monbrai, den trefflichen Ritter seiner Majestät des Königs William Rufus. Anschließend ließ er die ersten Töne auf seiner Flöte erklingen, um auch die Aufmerksamkeit und das Gehör des Letzten in der großen Halle zu bekommen. Die Vorstellung hatte begonnen. Jetzt zählte es.
Lucan verdrängte die Müdigkeit, die sich nach dem reichhaltigen Mahl über ihn legte, und lauschte dem Flötenspiel seines Stiefvaters, bis jener ihn zu sich auf den Platz vor den wichtigsten Herren rief. Mit einem Schlag war Lucan hellwach.
Unter höflichem Tischeklopfen der Zuschauer trat Lucan mit seiner Fiedel vor und bahnte sich den Weg zu Onfroi. Einige Barone zogen hämisch den Mundwinkel hoch, als bezweifelten sie, dass dieser junge Kerl da vor ihnen auch nur irgendeine Fähigkeit hatte, die sie beeindrucken könnte. Andere, vor allem die Frauen, insbesondere die jüngeren, musterten ihn von oben bis unten.
Lucan richtete seinen Blick auf Sire Robert und die Männer, die mit ihm am erhabenen Ende der Tischreihen saßen.
Kampferprobte Krieger, die alle alt genug wären, um mein Vater zu sein.
»Messires?« Er machte eine tiefe Verbeugung. »Ich schätze mich glücklich, Euch heute Abend mit meinen Künsten unterhalten zu dürfen.«
Sire Robert nickte und bedeutete ihm anzufangen.
Lucan verbeugte sich vor den anderen Zuschauern, blickte zu Onfroi und begann auf dessen Zeichen hin, auf der Fiedel zu spielen, während sein Stiefvater die tragische Geschichte über Carles de France und seinen Neffen Rollant anstimmte. Am Ende des Liedes übergab Lucan dem abtretenden Onfroi die Fiedel und holte seine Bälle aus der bereitgestellten Truhe.
Der Mann mit den hellen Augen, ganz außen am Tisch, beobachtete ihn aufmerksam, als er wieder seinen Platz einnahm und den Zuschauern die Bälle zeigte. Doch Lucan durfte sich nicht ablenken lassen, nicht jetzt, und sobald die Bälle in der Luft kreisten, vergaß er alles um sich herum.
Er jonglierte nicht nur mit Bällen und Kegeln, sondern bat die Zuschauer auch, ihm Gegenstände zu reichen, die er in der Luft zu halten versuchen würde. So flogen schon bald Löffel, dann Schuhe und schließlich sogar Eier Richtung Decke und wieder zurück in Lucans flinke Hände, die sie unmittelbar wieder nach oben beförderten.
Noch bevor Lucan all seine Wurfgeschosse wieder eingefangen hatte, klatschten die Ersten auf die Tischplatten und schon bald rollte der Beifall wie eine Welle durch die große Halle. Lucan atmete durch, verneigte sich tief und legte schließlich die Eier wieder heil und sicher zu den anderen in den Korb, den ein Küchenmädchen ihm sichtlich erleichtert hinhielt und dann eiligst fortschaffte.
Lucan griff in die Truhe und ging auf einen freundlich dreinblickenden Herrn zu, der nicht weit von ihm saß.
»Wie ist Euer werter Name, Munsire?«
Der Mann sah sich verlegen um. »Mein … Nun, man nennt mich Ascelin Fitz William.«
Lucan beugte sich zu ihm hinunter und betrachtete ihn kritisch von der Seite. »Sagt, Munsire, was habt Ihr da an Eurem Ohr?«, fragte er so laut, dass alle es hören konnten.
Sire Ascelin griff mit fragendem Blick an sein Ohr. »Warum? Was sollte an meinem Ohr sein?«
Einige Männer, die weiter weg saßen, standen auf und reckten die Hälse.
Lucan stemmte die Hände in die Hüften und sah sich stirnrunzelnd um. »Ja, kann denn nur ich sehen, was da in Eurem Ohr steckt? Haltet still! Ich werde versuchen, Euch davon zu befreien.«
Er legte eine Hand um Sire Ascelins Ohr und griff mit den Fingern der anderen Hand hinein. »Ihr habt doch keine Angst, oder?«
Sire Ascelin schüttelte eiligst den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Macht schon!«
Mit einem diebischen Grinsen auf den Lippen zog Lucan betont langsam einen kleinen weißen Zipfel zwischen seinen Fingern hervor.
Ein Staunen ging durch die Zuschauer.
»Hat das wehgetan?«, fragte Lucan.
Sire Ascelin blickte verwundert hoch. »Nein, aber sagt mir, was habt Ihr da?«
Lucan zog weiter, bis etwa eine Handbreit Stoff aus Sire Ascelins Ohr heraushing.
»Das ist ein Tuch!«, rief einer der Tischnachbarn ungläubig. »Er hat ein Tuch im Ohr!«
Lucan ruckte an dem Zipfel. Das Tuch glitt heraus, und Lucan schwenkte es wie eine Trophäe in der Luft herum. »Das Tuch ist raus! Sire Ascelin kann endlich wieder richtig hören.«
Einige Lacher ertönten, während die meisten Zuschauer mit der flachen Hand auf die Tische schlugen.
Lucan verneigte sich vor dem Baron. »Es war mir eine Ehre, Euch von diesem Störenfried zu befreien, Sire Ascelin.«
Der Baron betastete sein Ohr und blickte ungläubig auf das Tuch. »Das kann nicht sein! Wie habt Ihr das gemacht?«
Lucan machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm hin zum Baron. »Vielen Dank an Sire Ascelin, Messires et Mesdames!«
Während die Zuschauer Sire Ascelin bejubelten, hielt Lucan Ausschau nach einer Frau.
An der Wand der großen Halle standen einige Diener, die von dort das Schauspiel verfolgten. Auch das schöne Mädchen, das er beim Hereinkommen gesehen hatte, war unter ihnen.
Für einen Augenblick war Lucan versucht, sie für sein nächstes Kunststück auszuwählen, aber er besann sich rechtzeitig. Wie sah es aus, wenn er eine Dienerin den hohen Damen, die anwesend waren, vorzog? Das stellte eine infame Beleidigung dar. Onfroi könnte ihm das nie verzeihen, und von Matild hätte er eine ordentliche Tracht Prügel zu erwarten.
Er lächelte schuldbewusst und wählte dann eine rundliche Dame mit einem pelzbesetzten Kragen, aus dem er ein Ei hervorholte.
»Seid froh, dass wir es rechtzeitig erwischt haben«, rief er, während er es in die Luft hielt. »Stellt Euch vor, es wäre geschlüpft!«
Die Zuschauer lachten. Die Dame gluckste und winkte mit den beringten Fingern ab.
Als Letztes zauberte Lucan einem jungen adligen Mädchen eine Blume aus den offenen Haaren. Während ein Donnern erneut auf die Tischplatten niederging, konnte Lucan es sich nicht verkneifen, der schönen Dienerin ein Lächeln zuzuwerfen, als er die Blume hochhielt. Sie lächelte verschämt zurück und nickte. Vielleicht hatte sie ihn verstanden. Zumindest hoffte er das.
Er verbeugte sich nach allen Richtungen, zuletzt und besonders tief vor Sire Robert und den anderen mächtigen Baronen.
Die hohen Herren nickten gemächlich, aber anerkennend. Auch der Mann mit den hellen Augen ganz außen.
Sire Robert musterte Lucan. »Ihr seid sehr geschickt mit Euren Händen, Jugleur.«
»Danke, Sire.«
Sire Robert hob den Krug und schaute in die Runde. »Besonders bei den Damen.«
Viele Barone brachen in Gelächter aus, während den Damen die Schamröte ins Gesicht stieg.
Lucans Wangen glühten. Hatte er etwa versagt? Ausgerechnet heute?
»Was meint Ihr damit, Sire? Konnte ich Euch und die edlen Herren nicht mit meinen Künsten erfreuen?«
Das Herz pochte ihm bis in die Schläfen.
Sire Robert sah über die Schulter nach hinten. »Was meinst du dazu, Grimkel?«
Wie aus dem Nichts erschien an seiner Seite die Zipfelmütze des Narren, der selbst stehend noch kleiner als sein Herr im Sitzen war.
»Er ist ein begabter Junge, Sire. Ich denke, er wird es noch weit bringen.«
Grimkels Worte klangen warm und voll, ganz anders als der quäkende Tonfall, den Lucan sich vorgestellt hatte. Aber was wusste er schon über Zwergenstimmen? Er hatte noch nie vorher so einen kleinen Mann getroffen, geschweige denn gehört.
»Wo habt Ihr Euer Handwerk gelernt?«, fragte Sire Robert.
»Ich? … Mein Handwerk, also, ich …« Hilfesuchend sah er sich zu Onfroi und den anderen um. »Mein … Vater war Menestral bei –«
»Wir haben den Jungen als Waise aufgenommen, Sire«, rief Matild von hinten, »und ihm alles beigebracht, was Ihr und Eure Gäste heute Abend bewundern konntet, Sire.«
Lucan fuhr herum. »Was?«
Matild packte ihn am Arm und schob ihn zum Tisch zurück. »Euer Lob ehrt uns, Sire, aber ich denke, der Junge ist nun erschöpft und muss sich ausruhen.«
»Aber –« Lucan versuchte, sich aus dem Griff zu winden, doch Matild schloss die Hand so fest um seinen Arm, dass es schmerzte.
»Teis toi!«, presste sie zwischen den Zähnen hindurch und drückte Lucan auf die Bank. Dann gab sie Emma und Fulcred einen Fingerzeig aufzustehen, wandte sich mit einem zuckersüßen Lächeln um und stolzierte zu Sire Robert und den Baronen zurück. »Selbstverständlich haben wir noch mehr Musik und Unterhaltung vorbereitet, um Euch und Eure Gäste zu erfreuen, Sire. Nach so viel Schabernack«, sie bedachte Lucan mit einem abschätzigen Blick, »möchtet Ihr sicher etwas Anspruchsvolleres hören. Ich werde Euch einen alten Lai vortragen, der mehr nach Eurem Geschmack sein wird, Sire.«
»Etwas Anspruchsvolleres!«, grummelte Lucan zu Baldwin. »Das sagt ausgerechnet diejenige von uns, die am wenigsten singen kann.«
Er erntete ein Lächeln von Custance, die sanft nickte. »Aber was wissen wir schon von anspruchsvoller Arbeit.«
Lucan lauschte grollend, was Matild den Ohren der verwöhnten Zuhörer antat.
Fulcred und Emma begleiteten sie fehlerlos auf ihren Instrumenten. Matilds Singen dagegen klang nach dem Abendkonzert einer erkälteten Krähe. Dass sie das Lied durch ständiges Räuspern unterbrach, trug ein Übriges zum allgemeinen Missklang des Vortrags bei, auch wenn sie die Unterbrechungen immerhin passend zum Takt zwischen den Versen verteilte.
Da hat wohl jemand heute Nachmittag zu viel in der frischen Luft geschrien.
Lucan schmunzelte und strich zufrieden über sein Halstuch.
Nachdem auch Baldwin und William die Zuschauer mit ihrer Geschicklichkeit und Kraft begeistert hatten, rief Onfroi alle Familienmitglieder in der Mitte der großen Halle zu sich und lobte erneut die Vorzüge jedes einzelnen. Unter Jubelrufen der Anwesenden verbeugten Lucan und die anderen sich mehrfach, und Garulf machte auf ein Zeichen Lucans ebenfalls eine kleine Verbeugung, indem er ein Vorderbein abknickte und das Köpfchen zum Boden neigte, bis seine Schnauze den Boden berührte. Den Entzückungslauten nach flogen ihm spätestens jetzt die letzten Herzen zu.
Ob es wohl einen edlen Herrn unter den Zuschauern gibt, der gerade nach einem Menestral sucht? Wie schön es wäre, endlich wieder einen festen Platz zum Leben zu haben!
Sechzehn Jahre hatte er in ein und derselben Burg gelebt und war über Nacht ein Angehöriger des fahrenden Volkes geworden. Wie lange noch sollte er seine Gabe auf Märkten und Festen feilbieten, wo vor allem arme Leute zu den Zuschauern gehörten? Natürlich liebten sie es, der Musik und den Geschichten zu lauschen und die neuesten Nachrichten aus den umliegenden Dörfern oder vom König zu erfahren. Aber den Geldbeutel dafür aufmachen wollte keiner. Zumindest sorgte das Gebot der Nächstenliebe und der Gastfreundschaft dafür, dass die Familie an den meisten Abenden ein Dach über dem Kopf und ein wenig Brot hatte, aber Lucan erinnerte sich an so manchen Tag, an dem er mit leerem Magen eingeschlafen war.
Das wenige Essen teilte er gern mit seinen Geschwistern, aber es versetzte ihm immer einen Stich ins Herz, wenn sie wieder einmal nur so gerade eben mit dem auskamen, was sie besaßen.
Möge Gott in seiner Gnade geben, dass sich heute Abend wenigstens einer der edlen Herren dafür entscheidet, uns in seine Dienste zu stellen!