VERSUCHUNG
Saham, im September des Jahres unseres Herrn 1070
»Wegen dir werden wir alle irgendwann sterben.«
Jodocs Worte hallten weiter in Loïcs Kopf, als er längst den Stall verlassen hatte. Immer machten sie Loïc dafür verantwortlich, dass seine Truppe im Kampf Mann gegen Mann verlor! Andere hatten gewiss auch ihren Anteil zur Niederlage beigetragen, aber natürlich musste der Kleinste wieder an allem schuld sein. Wie er sein Knappenleben an manchen Tagen hasste!
Auf dem Hof wimmelte es um diese Tageszeit vor Menschen. Irgendwo musste es doch einen Ort geben, an dem er seine Ruhe hatte! Vielleicht könnte er sich abseits der Gebäude zumindest eine Zeit lang vor den Schmähungen der anderen Knappen verstecken.
Er eilte hinter den Getreidespeicher und lehnte sich mit einem langen Seufzer an die Rückwand. Langsam glitt er an den hölzernen Planken nach unten, bis er auf dem Boden landete, streckte die Beine aus und schloss die Augen.
Warum hatte sein Vater Mael ihn nicht in eine Priesterschule gegeben? Dort hätte niemand etwas an seiner Größe auszusetzen. Auf dem Schlachtfeld traute ihm doch ohnehin niemand etwas zu, allen voran sein drittältester Bruder Jodoc, der ihn um fast einen Kopf überragte und bald seine Schwertleite erhalten würde. Damit hätte Mael drei ausgebildete Krieger unter seinen Söhnen. Wozu brauchte er einen vierten? Nur ein Wunder könnte aus dem Jüngsten einen wirklichen Krieger machen, da war sich Loïc sicher.
Am nächsten Morgen begab sich Loïc bei Sonnenaufgang mit seinem Herrn Arzhel auf den Weg nach Grentebrige. Sie begleiteten eine kleine Gruppe Bauern, die dort auf dem Markt einen Teil des Getreides, das sie in den letzten Wochen geerntet hatten, sowie Torf, Fisch, Hühner, Eier und Butter verkaufen und dann mit Wein, Leder und Metall aus Northantonescire zurückkehren sollten. Gewiss gab es ruhmreichere Aufgaben im Leben eines Knappen, aber nach dem Misserfolg bei den Waffenübungen kam es Loïc ganz recht, dass er dem Hof einen ganzen Tag lang fernbleiben konnte.
Die Karren mit den Vorräten rumpelten über den weichen, unebenen Boden, und nur das Gackern des Federviehs riss Loïc ab und zu aus seinen trübsinnigen Gedanken. Er hätte wirklich Priester werden sollen. Denken lag ihm mehr als Kämpfen.
»Haltet Ihr mich auch für unfähig, ein Krieger zu werden?«, fragte Loïc seinen Herrn.
Arzhel lächelte ihn gutmütig an. «Ihr meint, weil kein anderer Knappe zur Wahl stand, als ich nach einem suchte?«
Loïc zuckte mit den Schultern. »Ihr habt so viel Geduld mit mir, und ich bereite Euch nur Schande.«
»Manche brauchen etwas länger, um sich als Knappe zu bewähren. Ihr habt noch fast die Hälfte Eurer Lehrzeit vor Euch.«
»Alle anderen sind besser als ich. Keiner will mich im Kampf an seiner Seite haben.«
»Vielleicht kämpft Ihr deshalb schlechter, als Ihr es eigentlich könnt. Würdet Ihr mich nicht verteidigen, wenn ich auf dem Schlachtfeld in Bedrängnis geriete?«
»Mit meinem Leben, Munsire! Ich würde alles für Euch tun.«
»Seht Ihr? Genau das denke ich auch, und deshalb bereue ich meine Wahl nicht.«
Loïc betrachtete Arzhel hilflos. Wie sehr er sich wünschte, dass er dem Ansehen seines Herrn gerecht werden könnte! Arzhel verdiente keinen wertlosen Diener wie ihn. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Mitleid mit Loïc und sagte deshalb solche Dinge. Wenn er doch nur ein besserer Knappe wäre!
Langsam kamen die Turmhügelburg und die mächtige Steinbrücke von Grentebrige in Sicht. Was für ein Monstrum diese Brücke war! Aber was wusste Loïc schon davon? Wo er lebte, gab es keine Brücken. Der Sumpfboden hielt kaum das Gewicht der Männer aus, die über ihn liefen, geschweige denn das eines Überwegs aus Holz oder gar Stein. Boote waren die Brücken des Mareis.
»Ich werde die Bauern bis zum Marktplatz begleiten«, sagte Arzhel. »Ihr sucht derweil nach einer Schenke, in die wir später einkehren können, aber gebt Acht, dass Ihr uns kein Ni de utlages aussucht.«
»Herewards Männer kommen bis Grentebrige?«
Die Härchen auf Loïcs Unterarmen stellten sich auf. Natürlich wusste er, dass der Geächtete für seine Plünderungen schon viel weiter, bis Burg, vorgedrungen war, aber Burg lag am Rande des Mareis und war leicht mit dem Boot zu erreichen. Nach Grentebrige dagegen musste man über festen Boden und offene Ebenen gehen oder reiten. Wer offenen Widerstand gegen den König leistete, würde sich gewiss nicht derart leicht der Gefahr aussetzen, gesehen und gefangengenommen zu werden!
»Elig bietet ihnen zwar ausreichend Nahrung und Holz, aber auch sie benötigen Leder für Schuhe und vor allem Metall für Waffen und Geräte.«
»Könnte man sie nicht einfach gefangennehmen, wenn sie hierherkommen?«
Arzhel schmunzelte. »Ihr stellt Euch das einfacher vor, als es ist. Bedenkt, dass in Grentebrige vor allem Sauson und Nachfahren von Dänen leben. Was meint Ihr, wie viele von ihnen Hereward und seine Männer nur allzu gerne unterstützen – und nicht allein dadurch, dass sie ihnen ihre Waren verkaufen?«
Loïc ruckelte sich in seinem Sattel zurecht und warf einen Blick um sich. Keine angelsächsischen Wegelagerer weit und breit. »Ist es dann überhaupt sicher für uns, in die Stadt zu reiten? Womöglich sind die Straßen voll von Angelsachsen, die König William hassen.«
»Davon gibt es wohl einige, aber die sollten Euch nicht weiter beunruhigen. Keiner von ihnen wird einen einfachen Knappen überfallen, nur weil er Normanne ist. Seid trotzdem wachsam, wo Ihr hingeht und mit wem Ihr sprecht. Die Stadt ist zwar fest in normannischer Hand, doch Hereward ist ein Meister darin, sich unbemerkt in Burgen und Häuser einzuschleichen – und wir wissen, wie blutig seine Besuche enden können. Aber jetzt genug davon! Geht und findet eine Schenke. Ich warte auf Euch am Marktplatz.«
»Wie Ihr befehlt, Munsire.«
Loïc verneigte sich und trabte voraus. Was für ein wunderliches Klappergeräusch die Hufe seines Pferdes machten, als er die alte Steinbrücke überquerte! Auf der anderen Seite des Flusses breitete sich ein Meer an Häusern, Läden, Straßen und Gassen aus, das für Loïc so verwirrend war, wie das Sumpfland um Elig für einen zufälligen Besucher sein musste.
Voll von Angelsachsen, die König William hassen.
Welchen Weg sollte er nur nehmen? Loïc richtete sich auf und entschied sich für die größte Straße. Wer sich gegen den König verschwören wollte, träfe sich wohl kaum in einer Schenke an solch einer belebten Straße, um dort seine Pläne zu besprechen.
Schon bald fand er eine Gaststätte, die ihm nicht zu schäbig oder zu klein für seinen Herrn schien, und trat ein.
Am Feuer stocherte ein Mann mit einem Schürhaken in den Flammen herum. Er blickte auf. »Bien veignez, munsire! Ich bin gleich bei Euch.«
Loïc sah sich um. Außer ihm gab es nur zwei weitere Gäste, die sich zu dieser Stunde bereits in der Schenke eingefunden hatten. Der Lautstärke und dem Lallen nach zu urteilen, schienen die beiden schon eine Weile die flüssigen Vorzüge des Gasthauses zu genießen.
Angewidert wendete Loïc seinen Blick von ihnen ab. Wie spät es wohl sein mochte? Sicher noch zu früh, um bereits jetzt volltrunken in einer Schenke zu sitzen. Vielleicht war dieses Gasthaus doch nicht für seinen Herrn geeignet.
Gerade wollte er kehrtmachen, als etwas im Feuerschein blinkte. Einer der Männer hatte sein Schwert gezogen und drehte es mit unsteten Bewegungen in alle Richtungen, während er dem anderen rülpsend etwas dazu erklärte. Viel verstand Loïc nicht davon, und das lag sicher nicht nur daran, dass die beiden Männer über den Durst getrunken hatten.
Sauson int!
Loïcs Herz pochte. Die Verräter waren in der Tat frecher, als er angenommen hatte.
Vorsicht, ja Angst, wollte ihn hinaustreiben, doch die blitzende Klinge zog ihn mit unsichtbarer Kraft näher zu den Männern hin. Schritt für Schritt schob er sich vorwärts, so als würde er sich an schreckhaftes Wild heranpirschen, bis er endlich einen genaueren Blick auf das Schwert werfen konnte.
Auf der nach unten gebogenen Parierstange reihten sich auf einem mit Kreuzen verzierten Untergrund Rauten aus Kupfer mit Bronzerand aneinander, ein Muster, das sich auch auf dem mit Silberdraht eingefassten dreilappigen Knauf wiederholte. Auf beiden Seiten der Schwertschneide verlief eine Hohlkehle, die zum Griff hin mit Gravuren versehen war: ein Doppel-S auf der einen Seite der Klinge und auf der anderen Seite die Inschrift +LEUTLRIT mit einem auf dem Kopf stehenden T am Ende.
Das Schwert eines echten Kriegers.
Loïc benetzte die Lippen mit der Zunge. Mit solch einem Schwert würde ihn keiner mehr auslachen und bei der Auswahl der Kampfgesellen für den Nahkampf übergehen. Wenn er nur auch so eine Waffe haben könnte!
Der Mann, der das Schwert in der Hand hielt, ließ es flach auf den Tisch knallen und hob mit der anderen Hand grölend den Trinkbecher.
»Wæs hal!«
»Drinc hal!«
Die beiden Männer lachten, warfen den Kopf in den Nacken und schütteten übermütig den Inhalt ihres Bechers in den weit geöffneten Mund. Was daneben ging, spritzte in alle Richtungen oder verschwand in ihrem Bart.
Der Mann mit dem Schwert schwang herum und griff nach der ledernen Schwertscheide, die neben ihm auf der Bank lag und im Vergleich zu dem Schwert, das sie schützte, geradezu gewöhnlich wirkte. Er blickte Loïc aus trüben Augen an, bevor er etwas Unverständliches lallte.
Mit unsteter Hand und unter dem Gelächter des anderen Mannes versuchte er daraufhin, das Schwert ins Futteral einzufädeln. Schließlich fand er die Öffnung, ließ das Schwert hineingleiten und legte die Waffe auf die Bank. In seinem Suff merkte er nicht, dass der Griff und der obere Teil über die Bank hinausragten. Es dauerte nicht lange, bis das Schwert samt Lederscheide von der Bank rutschte und auf den Boden fiel. Weil die beiden Betrunkenen viel zu laut und der Boden mit Reisigbündeln bestreut waren, schien keiner von ihnen davon etwas mitzubekommen.
Aber Loïc war das Ganze nicht entgangen. So ein schönes Schwert, achtlos auf den Boden geworfen!
Die beiden Männer erhoben sich polternd, riefen dem Wirt etwas zu und schwankten zur Tür.
Loïc wich den Betrunkenen aus und sah ihnen misstrauisch hinterher. Hatten sie etwa die Schenke verlassen, ohne zu bezahlen? Und vor allem … Loïcs Blick ging zurück zur Bank, unter der noch immer das Schwert lag.
Ein Schlag von Metall auf Metall ließ den jungen Bretonen zusammenfahren.
Neben der Feuerstelle pendelte der Schürhaken an einem dicken Eisennagel. Der Wirt rieb sich die Hände und kam lächelnd auf Loïc zu. »Einen Trunk für Euch, Munsire?«
Loïcs Zunge klebte am Gaumen. Er schluckte. »Oh, … ich … bin noch nicht durstig.« Er warf einen Seitenblick auf das Schwert unter der Bank, bevor er sich erneut an den Wirt wandte. »Aber mein Herr möchte später hier speisen. Gibt es bei Euch Cic ha iot?«
»Davon habe ich noch nie gehört, aber wir haben andere Speisen, die Euren Herrn sicher zufriedenstellen werden.«
»Vielleicht kennt Eure Köchin das Gericht. Wäret Ihr so freundlich, in der Küche nachzufragen? Mein Herr und ich wären Euch äußerst dankbar.«
Der Wirt verneigte sich. »Natürlich, Munsire. Ich bin gleich wieder da.«
»Lasst Euch Zeit!«, rief Loïc ihm hinterher, als er aus dem Raum verschwand. »Es eilt nicht.«
Argwöhnisch schaute er zur Tür nach draußen. Die Sauson waren zwar betrunken, aber auch in diesem Zustand würde der eine sicher irgendwann bemerken, dass er sein Schwert vergessen hatte. Sie könnten jeden Moment zurückkommen.
Mit klopfenden Schläfen schlich Loïc zum Tisch der Angelsachsen, nicht ohne sich immer wieder umzusehen, dass niemand ihn beobachtete.
Sein Herz raste, seine Haut glühte. Dort lag ein Schatz in seiner Reichweite. Er bräuchte nur …
Noch einmal sah er sich um. Wenn Arzhel das herausbekäme!
Seine Zunge fuhr über die Lippen.
Das Schwert eines echten Kriegers.
Ein rascher Griff – das kostbare Gut verschwand unter Loïcs Umhang.
Er schwitzte. Vorsichtig richtete er sich auf, während er die warme Lederscheide an seine Brust presste und das Hämmern seines Herzens fühlte. Hatte er tatsächlich gerade ein Schwert genommen, das ihm nicht gehörte?
Das Schwert eines echten Kriegers.
Er musste so schnell wie möglich hier weg.
Kaum atmend, blickte sich Loïc erneut um, bevor er sich zum Ausgang wandte. Eine Stimme ließ ihn erstarren.
»Tut mir leid, Munsire«, sagte der Wirt von Weitem, »aber dieses Gericht kennt niemand in der Küche.«
Loïc umklammerte das Schwert und zog den Umhang enger um sich. »Ich danke Euch für Eure Mühe, Munsire.« Mühsam versuchte er, seine aufkeimende Angst mit einem Lächeln zu überspielen. »Ich werde meinem Herrn Euer Gasthaus trotzdem empfehlen, und zwar gleich jetzt.»
Bereit, womöglich einem wütenden und zu allem fähigen ehemaligen Schwertbesitzer gegenüberzustehen, öffnete Loïc die Tür. Sein Weg war frei – nichts wie weg von hier!
»Habt Dank, Munsire«, sagte der Wirt. »Und beehrt uns bald wieder!«