Herstellung eines Manuskripts im Mittelalter

15. Januar 2024

Birgit Constant

Wie für moderne Schreibende gab es auch im Mittelalter schon eine erprobte Arbeitsweise, um ein Manuskript herzustellen, nur dass alles viel aufwändiger und zeitintensiver war. Folgen Sie mir also in die Schreibstube und entdecken Sie die einzelnen Schritte zur Herstellung eines Manuskripts bzw. eines Buches vom Kuss der Muse – oder eines göttlichen Engels – bis hin zur vervielfältigten Abschrift für ein breites Publikum!

More...

Vorbereitungen zur Herstellung eines Manuskripts

Wenn Sie an Manuskripte denken, schweben wahrscheinlich Bilder von vergilbten Schriftrollen an Ihrem inneren Auge vorbei, doch bis der mittelalterliche Schreiber überhaupt mit seiner Arbeit anfangen konnte, bedurfte es einiger Vorbereitung.

Wenn Manuskript von manu scriptum, also mit der Hand Geschriebenes, kommt, dann fallen die Vorbereitungen unter Manufakt von manu factum, mit der Hand gemacht, denn in Ermangelung von Notizblöcken und Laptop braucht der mittelalterliche Künstler natürlich erst einmal etwas, auf dem er seine Gedanken fließen lassen konnte: den Schreibuntergrund.

Materialien

Zunächst besorgte man sich also je nach Umfang des zu schreibenden Werkes einen schönen Stapel Pergament, entweder aus der klostereigenen Herstellung oder, insbesondere ab dem 13. Jahrhundert, im mittelalterlichen Fachhandel bei Gerbern oder sogenannten Pergamentern.

Pergament oder Papier?

Pergament war bis zum späten Mittelalter das beliebteste Schreibmaterial . Es wurde in einem aufwändigen Herstellungsprozess aus gegerbten Tierhäuten (Kalb oder Schaf; Italien nutzte vorwiegend Ziegenhäute) gewonnen und konnte nach dem Beschreiben gefaltet und zusammengenäht werden – solange das Material nicht zu sehr austrocknete, denn dann wurde es knochenhart und unbeschreibbar. Bewahrte man es sorgfältig auf, konnte es allerdings Jahrtausende überdauern. Fehler schabte man einfach weg und überschrieb die entsprechende Stelle – was zu nachträglichen Veränderungen von Manuskripten und Texten durch Kopisten führen konnte.

Papier gab es zwar – es kam im 12. Jahrhundert aus China auf dem Umweg über das muslimische Spanien nach Europa, aber verbreitet hat es sich erst ab dem 14. Jahrhundert, insbesondere dann mit Erfindung des Buchdrucks gegen Ende des Mittelalters. Da Papier aus Leinenlumpen gemacht wurde – erst ab dem 19. Jahrhundert verwendete man Zellulose aus Holz –, war es billiger und leichter herzustellen als Pergament, wenn auch weniger haltbar. Darüber hinaus war Papier relativ fälschungssicher, da Texte nicht einfach durch Wegschaben der Schrift geändert werden konnten, was dieses Material perfekt für alle Arten von Rechtsdokumenten machte.

Und sonst?

Natürlich brauchte man auch noch Tinte, Schreibutensilien, Garn, Leder und Holz für die Herstellung eines vollständigen Buches, aber diese waren im Gegensatz zum Pergament direkt einsatzbereit.

Für weniger hochwertige und/oder offizielle Texte wie Rechnungen und Privaturkunden reichten auch die Reste aus Buchproduktionen oder die weniger schönen Pergamentfetzen von den Rändern der Tierhaut. Im alltäglichen Gebrauch behalf man sich außerdem wie schon in der Antike mit Wachs- oder Schiefertafeln, die man mit einem Griffel beschreiben und nach dem Löschen des Geschriebenen immer wieder neu benutzen konnte.

Die Handarbeit vor dem Schreiben: falten, markieren, nähen

Wie bekommt man die Tierhaut nun in ein Buchformat, wie wir es kennen? Ganz einfach: durch Handarbeit, und zwar folgendermaßen:

  1. Falten: Als Erstes nahm man einen Bogen Pergament, schnitt ihn auf die passende Größe und Form zu und faltete (falzte) ihn der Mitte. So erhielt man ein Bifolium (= Doppelblatt), d. h. vier Blätter mit Vorderseite (recto) und Rückseite (verso). Von dieser Benennung stammen die obskuren Stellenangaben für Zitate aus Manuskripten, etwa folio 1v = Rückseite (verso) des ersten Blattes eines gefalteten Pergaments. Die Formate für mittelalterliche Manuskripte reichten von klein, etwa für wenige cm große Gürtelbüchlein, bis riesengroß wie die 58 x 80 cm messende Winchester-Bibel, die schönste und größte der unförmigen Bibeln, die im 12. Jahrhundert in England und auf dem Kontinent vor allem für liturgische Zwecke produziert wurden.
  2. Markieren: Auf den Seiten wurden nun Linien markiert, entweder mit einem Messer bzw. einer Ahle und kleinen Löchern oder aber mit Lineal und einem stumpfen Griffel mit schwarzer oder seltener brauner Tinte. In großen Skriptorien erledigte diese eintönige Arbeit meist ein jüngerer Schreiber, um die erfahrenen Schreiber für die eigentliche Arbeit am Manuskript freizuhalten. Wie lang die Linien waren, hing nicht nur vom Format, sondern auch vom Status und der Qualität des Textes ab: Werke wie Bibeln und Heiligenlegenden erhielten breite Ränder für Illuminationen und Illustrationen; banalere Werke kamen mit weniger Rand aus und bestanden größtenteils aus Text.
  3. Nähen: Anschließend steckte man die gefalteten Rücken der Bifolia in üblicherweise vier- oder sechsblättrige Lagen zusammen und vernähte sie.

Handschriftlich zum Manuskript

Schreiben

Ausrüstung

Erst jetzt begann die eigentliche Schreibarbeit des Autors oder des Kopisten als Teil der klösterlichen Morgenroutine: Bewaffnet mit einer Feder, meist ein Gänsekiel, einem Federmesser zum Anspitzen der Feder und Ausradieren etwaiger Schreibfehler sowie schwarzer Tinte, meist Eisengallustinte aus gemahlenen und mit Eisensalzen und Gerbsäuren gemischten Eichengalläpfeln, fröhnten sowohl männliche als auch weibliche Schreiber ihrer Bestimmung und malten Buchstaben mehr oder weniger kunstvoll und eng auf das vorbereitete Pergament.

Dauer

Neben ausreichend physischen Schreibmaterialen brauchten mittelalterliche Schreiber vor allem eins: viel Zeit. Das lag nicht nur daran, dass die Federkiele ständige in die Tinte getaucht werden mussten, sondern vor allem an der Beschaffenheit der genutzten Schriftarten. Jeder Buchstabe wurde einzeln geschrieben, und je nach Schriftart musste die Feder dazu mehrmals angehoben und wieder neu angesetzt werden.

Ein durchschnittlicher Schreiber des 10. bis 12. Jahrhunderts schrieb bzw. kopierte schätzungsweise rund 200 Zeilen Text pro Tag, das entspricht 33 bis 40 Zeilen pro Stunde. Auch die Einführung kursiver Schriften im späten Mittelalter änderte am Zeitaufwand, der für die handschriftliche Buchherstellung nötig war, nicht viel. Für die Abschrift des Hiob-Kommentars Gregors des Großen aus dem 15. Jahrhundert – wenn ich richtig liege, handelt es sich dabei um dieses über 370 Seiten starke Exemplar – schätzt man beispielsweise, dass diese etwa fünfzehn Monate in Anspruch nahm.

Rubrizieren

War der Text fertig geschrieben, ging es mit Blick auf Gliederung und Lesefreundlichkeit an die Einfärbung wichtiger Textteile in rot. Dies machte der Schreiber entweder selbst oder gab die Aufgabe an einen Rubrikator ab, der mit roter Tinte Überschriften und Initialen einfügte oder kleinere Initialen mit roten Strichen hervorhob.

Er oder ein anderer Schreiber prüfte den Text auch auf Fehler und korrigierte diese gegebenenfalls. Weitere Elemente, die den Leser führten, etwa Inhaltsverzeichnisse oder Randnotizen, wurden dem Text ebenfalls zu diesem Zeitpunkt hinzugefügt.

Illustrieren

Der dritte und letzte Schritt bei der Erstellung des Inhalts eines Manuskripts ist die etwaige und mehr oder weniger aufwändige Illustration des Textes durch verschiedene Arten von Bildinitialen oder in den Text eingebundene Bilder. Dies erfolgte durch ein oder mehrere Personen in drei Schritten: zeichnen, vergolden, ausmalen.

Gerade bei Bibeln konnte insbesondere dieser Schritt die Fertigstellung eines Buches erheblich in die Länge ziehen – wir sprechen hier von Jahren – oder ganz verhindern. Die oben erwähnte Winchester-Bibel wurde fünfzehn Jahre lang illuminiert und zeigt sehr schön die gerade erwähnten drei Schritte der Illuminierung und wie viele unterschiedliche Künstler, jeder mit seiner eigenen „Handschrift“ bei den Illustrationen, über lange Jahre an dem Projekt gearbeitet haben. Dass wir diese Schritte aber überhaupt sehen können, verdanken wir der Tatsache, dass die Illustrationen nie beendet wurden.

Aus dem Manuskript wird ein Buch

Das Manuskript war damit fertiggestellt. Handelte es sich um einfache Texte wie Rechnungen, Urkunden oder Briefe, wurde das Schriftstück gegebenenfalls noch „unterschrieben“ bzw. mit Siegel versehen und dann in den Umlauf gebracht. Bei längeren und aufwändigeren Texte folgte dagegen noch ein weiterer handarbeitlicher Schritt, in dem man je nach Bedarf mehrere oder viele Bifolia-Lagen entlang ihrer Rücken in einen Codex, ein Buch, zusammennähte oder -heftete.

Ordnen

Damit die einzelnen zusammengenähten Manuskriptlagen in der richtigen Reihenfolge gebunden wurden, notierte man auf der letzten (Rück-)Seite einer Lage beispielsweise die Wörter vom Anfang der ersten Vorderseite der nächsten Lage oder „nummerierte“ die jeweils letzten Seiten alphabetisch durch.

Zusammenfügen

Am Rücken der derart angeordneten Lagen befestigte man dann mit Löchern versehene Buchdeckel aus Eichen- oder Buchenholz, manchmal auch Leder, indem man sie dort mit Garn festnähte. Das Holz wurde zusätzlich von außen durch eine Lederschicht aus Kalbs- oder Ziegenhaut geschützt und auf der Innenseite mit Einlagen aus Pergament am Manuskript befestigt.

Dekorieren

Hochwertige Bücher konnten auch Einbände aus beispielsweise Seehundfell haben oder mit Dekorationen aus Elfenbein, Metallarbeiten, Edelsteinen oder Perlen geschmückt werden.

Wer schrieb Manuskripte?

Wie im Mittelalter die Herstellung eines Manuskripts oder Buches aus handwerklicher Sicht erfolgte, können wir mittlerweile gut nachvollziehen, doch ein Rätsel bleibt immer noch, wem wir die Inhalte, die Texte verdanken? Wer sind die Menschen hinter den Buchstaben? Von wem stammte die erste Fassung, wer hat für die Verbreitung gesorgt?

Jedenfalls nicht nur der stereotype Mönch in seiner einsamen Schreibstube, wie einige der erhaltenen Schriftstücke es vermuten lassen, auch wenn insbesondere in England durch die Auflösung und Zerstörung der Klöster und deren Bibliotheken unter Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert viele Manuskripte und Beweisstücke verloren gegangen sind. Auch einem Text einen Namen zuzuordnen, ist oft schwierig, da viele Manuskripte weder signiert, betitelt oder in anderen Texten erwähnt werden.

Nicht immer nur die Männer

Dass auch Frauen eifrige und teilweise auch sehr begehrte Schreiber und Kopisten waren, beweist unter anderem ein Brief aus ungefähr dem Jahr 732 von der Heiligen Lioba, Nonne des Benediktinerdoppelklosters Wimborne in Dorset und wenige Jahre später Äbtissin des Klosters in Tauberbischofsheim, an ihren ebenfalls aus England stammenden Verwandten, den Heiligen Bonifatius.

In dem Brief schickt sie ihm ein Gedicht, was sie nicht zur ersten namentlich bekannten englischen Dichterin macht, sondern auch darauf hinweist, dass Nonnen nicht nur gelehrt (=lateinisch lesen und schreiben können, im Gegensatz zu Ungebildeten, die nur die Volkssprache verstanden) waren und nicht nur Briefe schrieben, sondern auch Gedichte verfassten.

Lioba selbst hatte die Dichtkunst anscheinend von der Äbtissin Eadburga gelernt, die so wortgewandt war, dass der Heilige Bonifatius ganz ausdrücklich sie bat, einen wertvollen Schreibauftrag für ihn zu erfüllen.

Auch bei Manuskripten, deren Autor nicht bekannt ist, gibt es manchmal Hinweise, dass sie von Frauen verfasst wurden, nämlich wenn durchgehend weibliche Wortendungen im Text benutzt werden. Eine Differenzierung anhand der Schrift ist leider unmöglich, da die genutzten Schriftarten wenig Raum für individuelle Züge boten.

Nicht immer nur die Kleriker

Pergament war extrem teuer und Schreiben langwierig, so dass die Herstellung von Manuskripten nicht nur eine Frage der Zeit, sondern immer auch eine Frage des Geldes war. Doch wo der Fortschritt und die Entwicklung eines reichen Bürgertums voranschritten und die Verbreitung von günstigem Papier als Schreibmaterial zunahm, gab es speziell im späten Mittelalter den zeitlichen und finanziellen Freiraum, der die Produktion von Manuskripten auch Menschen außerhalb von Klöstern ermöglichte. Daneben wuchs auch der Bedarf nach Büchern und schriftlichen Erzeugnissen, so dass Schreibarbeiten immer mehr aus Klöstern an spezialisierte Berufsschreiber ausgelagert wurden.

Nicht immer der tatsächliche Urheber

Kein Titel, kein Name, kein gedruckter, unveränderbarer Text? Und vom Urheberrecht keine Spur? Schlechte Karten für Schreibende, denn dadurch öffneten sich Tür und Tor für Änderungen, Korrekturen, aber auch Verfälschungen am Manuskript.

Schon der Korrektor konnte Buchstaben und Wörter wegschaben und ändern. Wer das Manuskript kopierte, konnte sogar gleich ganze Sätze und Abschnitte hinzufügen oder weglassen – es gab ja keinen definitiven, endgültigen und unveränderlichen gedruckten Text wie heute, der noch dazu irgendwo offiziell hinterlegt und registriert war. So hatten dem eigentlich Autor nachfolgende Schreiber und Bearbeiter freie Hand im Umgang mit dem Text und konnten ihn nach Herzenslust abschreiben, bearbeiten, ändern, umgestalten, kürzen und/oder mit mehr oder weniger sinnvollem und passendem Material ergänzen – je nach Bedarf und Zweck.

Je nachdem, welche Änderungen vorgenommen, welche Texte ausgewählt und nebeneinander platziert wurden – in ein aus einzelnen Pergamentlagen bestehendes Manuskript mit mehreren kleineren Texten eine weitere Lage Pergament mit völlig anderen Texten hineinzuschmuggeln stellte kein allzu großes Problem dar –, konnte dies die Bedeutung des Textes oder die Art und Weise, wie er verstanden werden sollte oder wurde, durchaus beeinflussen.

Marie de France, die erste namentlich bekannte volkssprachliche Dichterin Frankreichs, ist sich dieser Gefahr für ihre Texte ganz explizit bewusst und versucht alles, damit man ihre Texte richtig liest und versteht. So stellt sich bei Manuskripten letztendlich nicht nur oft die Frage, wer sie geschrieben hat, sondern auch, ob das, was wir da lesen, tatsächlich das ist, was der Autor uns ursprünglich sagen wollte.

Literatur

Mary Wellesley: Hidden Hands: The Lives of Manuscripts and Their Makers
Mittelalterliche Geschichte: Kodikologie: Schriftträger
Mittelalterliche Geschichte: Kodikologie: Buchherstellung
British Library: A rough guide to making a manuscript
Medievalists.net: Seven videos on making medieval manuscripts

Über die Autorin

Birgit Constant

Birgit Constant ist promovierte Mediävistin, hat elf Sprachen gelernt und arbeitet seit 2014 als freie Autorin, Texterin und Lektorin in Landshut. Sie schreibt historische Romane für Leser, die geschichtlich und sprachlich ins Mittelalter eintauchen wollen, und hat einen Ratgeber für Nachwuchsautoren veröffentlicht.

Ähnliche Beiträge:

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}
>