Muslimisches Erbe in Europa: maurische Spuren überall

15. August 2023

Birgit Constant

Obwohl die islamische Dominanz auf der iberischen Halbinsel zum Ende des Mittelalters verschwand, halten die Folgen der muslimischen Einwanderungen bis heute an. Welche Errungenschaften Europa dem Islam zu verdanken hat, erfahren Sie in diesem Beitrag.

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Überblick über muslimisches Erbe in Europa

Natürlich war auch unter muslimischer Herrschaft nicht immer alles eitel Sonnenschein, aber das kann das in Europa vorherrschende Christentum ebenso wenig für sich behaupten.

Tatsache ist, wie schon im ersten Beitrag dieser Reihe angerissen, dass wir der islamischen Gesellschaft, die ihr mittelalterliches christliches Pendant in vielen Bereichen übertraf, nicht nur enorme Fortschritte in den Naturwissenschaften, der Medizin und der Landwirtschaft zu verdanken haben, sondern durch ihre Übersetzungsarbeit (bzw. jene arabischsprachiger Juden) auch die Bewahrung bzw. Erschließung eines wichtigen Bestandteils europäischer Kultur.

Übersetzung, Wissensvermittlung und Denken

Eine der bedeutendsten Leistungen der großen Wissenszentren auf der iberischen Halbinsel waren die Übersetzungen antiker griechischer Werke ins Arabische und, ab etwa dem 11. Jahrhundert, ins Lateinische durch muslimische bzw. jüdische Gelehrte. Einerseits erhielten dadurch auch europäische, meist nur des Lateins mächtige Kleriker Zugang zu diesen jahrhundertealten Schriften. Andererseits bewahrten Übersetzer wie Hunayn Ibn Ishaq (9. Jahrhundert) auf diese Weise auch den Inhalt von Werken, die im griechischen Original verloren gingen, etwa vom antiken Arzt Galen.

Patronat

Waren es im Frühmittelalter vor allem Herrscher und Fürsten im muslimischen Spanien, welche die Erforschung, Übersetzung und Verbreitung von Wissen finanziell unterstützten, gesellten sich zum Hochmittelalter hin auch Herrscher anderer Länder hinzu, etwa die normannischen bzw. staufischen Herrscher in Sizilien.

Ausbildung

Außerdem gab es im Hochmittelalter zunehmend Schulen, an denen die entsprechenden Wissenschaften vermittelt wurden. In Al-Andalus spezialisierten sich Schulen auf bestimmte Fächer, etwa aristotelische Philosphie in Sevilla.

Hatte Karl der Große bereits für die Einrichtung von Schulen in seinem Reich gesorgt, um den allgemeinen Bildungsstand seiner (männlichen) Untertanen zu erhöhen, zogen die französischen Kathedralschulen in Paris, Chartres, Reims und Laon in den folgenden Jahrhunderten zunehmend auch Studenten aus anderen Ländern an, die sich neben den bereits in den karolingischen Kodizes befindlichen antiken Autoren mit dem neu erschlossenen Wissen der arabischen Welt beschäftigen wollten.

Ironischerweise waren Muslime und Juden gerade dort, wo man die Ergebnisse ihrer Arbeit lehrte und lernte, von einer Teilnahme am Unterricht ausgeschlossen. Auch die Einrichtung eines Lehrstuhls für Arabisch oder Hebräisch, nicht nur zum rechten Verständnis alter griechischer und neuer arabischer Texte, sucht man vergeblich.

Bekannte Araber

Arabische Wissenschaftler und Denker wie Avicenna (Ibn Sina, ein auch in vielen nichtmedizinischen Fachgebieten hochgebildeter persischer Arzt, Philosoph und Astronom), Averroës (Ibn Rushd, der aus Cordoba stammende letzte bedeutende muslimische Philosoph und Kommentator von Aristoteles) und Al-Kindi bzw. Al-Farabi (zwei der größten muslimischen aristotelisch beeinflussten Philosophen) kannte und schätzte man auch in christlichen Gelehrtenkreisen.

Nicht ohne Papier

Im Zusammenhang mit der Verbreitung islamischer Einflüsse in vielen Fachgebieten und Bereichen des Lebens im mittelalterlichen Europa kommt einer weiteren Errungenschaft der Muslime ganz besondere Bedeutung zu, ohne die eine Verschriftlichung und Multiplizierung dieses Wissens nicht möglich gewesen wäre: die Einführung von Papier, das die Araber gegen Ende des 8. Jahrhunderts aus China nach Bagdad mitbrachten. Im arabischen Raum ersetzte Papier den Papyrus, in Europa das Pergament – wobei erst im Spätmittelalter zunächst in Italien (Genua, Bologna), später auch nördlich der Alpen (Troyes, Nürnberg, Stevenage) Zentren zur Herstellung von Papier auf europäischem Boden entstehen.

Muslimisches Erbe im europäischen Mittelalter

Am deutlichsten sind architektonische Einflüsse des Islam in Europa natürlich in Al-Andalus, wo die maurische Architektur mit ihren typischen Gebäudeelementen, Mosaiken und arabischen Ornamenten insbesondere in den Großstädten auch heute noch allgegenwärtig ist, etwa die Mezquita in Cordoba oder die Alhambra in Granada.

Durch fortschrittliche Bewässerungstechniken in trockenen Gebieten verbesserten sich die Ernteerträge und damit die landwirtschaftliche Produktivität. In Kombination mit einer breiteren Palette an neu eingeführten Getreide-, Obst- und Gemüsearten führten diese Entwicklungen für Handel und Gesellschaft zu Aufschwung, einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln und gegebenenfalls auch Wohlstand.

Vor allem das Wissen arabischer Ärzte hinsichtlich Krankheiten, Krankheitsbildern, Diagnose, Behandlungsmethoden, Chirurgie, Operationen und Instrumenten bereicherte die im mittelalterlichen Europa vorhandenen Kenntnisse in Kräuterheilkunde und Medizin.

Arabische Zahlen, Algebra, Erkenntnisse über den Sternenhimmel, Navigationstechniken und -instrumente wie das Astrolabium brachten Fortschritte in den Bereichen Mathematik und Astronomie

Nicht zuletzt lässt sich der muslimische Einfluss auch in den Sprache Europas feststellen, wo er zahlreiche Lehnwörter im kulinarischen und wissenschaftlichen Bereich hinterließ. Dazu gehören die deutschen Begriffe Kaffee, Zucker, Alkohol, Algebra, Algorithmus, Ziffer die in ähnlichen Formen auch in anderen Sprachen Europas zu finden sind; außerdem spanisch „aceite“ (Öl) und „albóndiga“ (Fleischkloß), französisch „orange“ (Orange) und „coton“ (Baumwolle) oder auch englisch „zero“ (Null).

Ein Einfluss auf Raten

Acht Jahrhunderte muslimische Herrschaft auf der iberischen Halbinsel haben ihre Spuren nicht nur dort, sondern in ganz Europa hinterlassen. Nicht immer zeigte sich die Wirkung derart schnell und offensichtlich wie in Al-Andalus, doch Händler, Gelehrte und Reisende sorgten dafür, dass die wissenschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen, die im maurischen Reich stattfanden, auch in den Nachbarländern ankamen, adaptiert und angenommen wurden.

Das mochte manchmal einige Jahrhunderte dauern und auch nicht in vollem Umfang geschehen, aber letztendlich fiel das arabische Wissen auf den fruchtbaren Boden, den Karl der Große und der englische König Alfred der Große mit ihren groß angelegten Bildungsreformen im 9. und 10. Jahrhundert bereiteten und den herausragende einheimische Gelehrte wie Beda Venerabilis, Alkuin, Übersetzer wie Adelard von Bath, Gerhard von Cremona und Wilhelm von Moerbeke, Bischof Robert Grosseteste, Roger Bacon und Albertus Magnus fleißig über die Jahrhunderte nährten.

So entwickelte sich auf dem wissbegierigen europäischen Boden mit der kenntnisreichen arabischen Saat eine Pflanze des Wissens und des Fortschritts, die Europa aus der dunklen Zeit nach dem Fall des Römischen Reiches hinauswachsen ließ. Dass sie weder Toleranz noch eine friedliche Koexistenz brachte, steht auf einem anderen Blatt. Dass das christliche mittelalterliche Europa davon profitierte, ist jedoch ohne Zweifel.


Und jetzt Sie

Beim Schreiben dieses letzten Beitrags musste ich über zwei Dinge die Stirn runzeln:

1. Was haben eigentlich die Muslime von ihrer Zeit in Al-Andalus gehabt bzw. haben sie überhaupt etwas davon mitgenommen?

2. (Universal-)Gelehrte mit Kenntnissen in Sprachen, Philosophie und Theologie gab es auch im christlichen Europa, aber wo sind die herausragenden nicht muslimischen, europäischen Ärzte, Chirurgen, Physiker, Mathematiker, Astronomen, etc., außerhalb von Al-Andalus? Sucht man nach den besten mittelalterlichen Wissenschaftlern besteht der Großteil der Ergebnisse aus den Namen arabischer Koriphäen.

Was meinen Sie? Schreiben Sie es in die Kommentare!

Weiterführende Links

Falls Sie Lust haben, mehr nachzulesen, hier eine Liste von Quellen, die ich zum Schreiben dieser Beitragsreihe bzw. bei der Recherche für meinen Roman genutzt habe:

https://www.encyclopedia.com/fashion/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/middle-east-history-islamic-dress

https://www.medievalchronicles.com/medieval-history/medieval-history-periods/moorish-period/moorish-clothing/

https://www.hisour.com/es/early-medieval-european-dress-32308/

https://andalusiantraveller.com/2017/03/08/andalusian-women-in-history/

https://en.wikipedia.org/wiki/Al-Andalus

https://brewminate.com/convivencia-christians-jews-and-muslims-in-medieval-spain/

https://www.myjewishlearning.com/article/jewish-clothing-in-the-middle-ages/

https://www.andalucia.com/spainsmoorishhistory/almoravidsandalmohads.htm

https://www.desdomesetdesminarets.fr/2017/12/31/des-esclaves-musulmans-en-france-medievale/

https://fr.wikipedia.org/wiki/Islam_en_France

https://economics.utoronto.ca/munro5/SPICES1.htm

https://www.worldhistory.org/article/1777/the-spice-trade--the-age-of-exploration/

http://www.spanien-bilder.com/spanische_geschichte/reconquista-spanien.php

https://www.islamreligion.com/de/articles/522/ein-kurzer-einblick-in-das-muslimische-spanien/

https://sensationalspain.com/moors-in-spain/

https://www.spanish.academy/blog/13-interesting-moorish-influences-in-spain/

https://historiaespana.es/edad-media/economia-sociedad-al-andalus

https://www.spanish.academy/blog/13-interesting-moorish-influences-in-spain/

https://nos-ancetres-sarrasins.francetv.fr

Malcolm Clark: Islam für Dummies, Weinheim (Wiley-VCH) 2015

Über die Autorin

Birgit Constant

Birgit Constant ist promovierte Mediävistin, hat elf Sprachen gelernt und arbeitet seit 2014 als freie Autorin, Texterin und Lektorin in Landshut. Sie schreibt historische Romane für Leser, die geschichtlich und sprachlich ins Mittelalter eintauchen wollen, und hat einen Ratgeber für Nachwuchsautoren veröffentlicht.

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