Muslimischer Alltag im Mittelalter: Religion, Umgangsformen und Ethik

14. Juli 2023

Birgit Constant

Wohnen, Kleidung, Handel und Essen – dies sind alles wichtige physische Aspekte des Lebens, aber wie sah es aus mit psychischen bzw. spirituellen Belangen von Muslimen in Europa im Mittelalter? Wie für Gläubige anderer Religionen hat sich der Alltag in dieser Hinsicht bis heute nicht viel verändert, denn die grundlegenden Ideen, Konzepte und Umsetzungen sind seit Jahrhunderten gleich geblieben.

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Ein sehr kurzer Einblick in den Islam

Wie das Christentum und andere Weltreligionen basiert der Islam auf bekannten Prinzipien: Die Gläubigen sollen eine höhere Macht achten, beten, höflich und friedvoll mit ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt umgehen sowie Exzesse in allen Lebensbereichen, ob physisch oder psychisch bzw. spirituell, vermeiden.

Beten

Das wichtigste Ritual aller Religionen führen Muslime nach einer mehr oder minder ausführlichen Reinigung fünf Mal täglich aus: vor Sonnenaufgang, am Mittag zum höchsten Stand der Sonne, am Nachmittag, direkt nach Sonnenuntergang und noch einmal in der Nacht.

Wo es eine Moschee gibt, steigt normalerweise der Muezzin auf den Turm des Minaretts, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen. 

Alle Gebete erfolgen nach Osten zur heiligen Moschee in Mekka gerichtet im Stehen, Knien oder in einer Verbeugung und grundsätzlich nach Geschlechtern getrennt.

Umgang mit anderen

Grundlagen

Die grundlegenden Quellen des islamischen Glaubens, der Koran und die Hadithe – Berichte über Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed –, legen großen Wert auf gutes Benehmen, also höfliches und korrektes Verhalten gegenüber anderen. Dazu gehörte nicht nur die eigene Erfüllung dieser Vorgaben, sondern auch der umgehende Dank an jene, von denen einem Gutes widerfuhr: „Möge Gott dich gut belohnen.“

Die Hadithe beinhalten als Ratschläge für vorbildliches Benehmen Sprüche wie: „Werde nicht wütend.“ oder „Wo keine Verletzung entstanden ist, gibt es keine Vergeltung.“

Doch genauso wie überschäumende negative Gefühle im Sinne einer gemäßigten Lebensweise vermieden werden sollten, mussten auch positive Gefühle im Zaum gehalten werden. Wie im Christentum waren voreheliche Beziehungen von Mann und Frau verboten und brachten große Schande für die Familie. Was bei Männern allerdings immer wieder toleriert wurde, konnte bei Frauen im schlimmsten Fall zu einem Ehrenmord führen. Das widersprach zwar islamischem Recht, nach dem Gläubige nicht töten durften, kam aber trotzdem vor.

Aber nicht nur religiöse Texte regten zu einer Nachahmung des vorbildlichen Propheten durch Gläubige an. Bereits im frühen Mittelalter, nur mehr als ein Jahrhundert nach dem Tod Mohammeds, gab es die ersten Adab-Bücher (adab = gutes Benehmen), um Menschen gutes und ethisches Handeln und Denken zu vermitteln, etwa in Anleitungen für Könige über das rechte Herrschen oder für Ärzte über die richtige Versorgung von Patienten. Daneben entstanden auch literarische Werke mit weiteren Beispielen für moralisches Handeln, beispielsweise vom persischen Theologen al-Ghazali (11./12. Jahrhundert).

Ethische Charakteristika

Interessant ist, dass wie im Christentum die rechte Hand gegenüber der linken bevorzugt wird (mehr über die christliche Haltung in meinem Beitrag über Linkshänder im Mittelalter). So geben gläubige Muslime bei positiven Handlungen wie Essen, Trinken, Händeschütteln oder dem Anziehen von Kleidung und Schuhen normalerweise der rechten Körperhälfte, dem rechten Fuß und der rechten Hand den Vorzug.

Zu beachten galt es außerdem, dass korrektes Verhalten bereits im Kopf anfing, d. h. Denken und Handeln mussten im Einklang sein, um die Vorgaben des Propheten und der auslegenden Texte zu erfüllen.

Konnte beispielsweise eine Handlung gute und böse Folgen haben, musste man diejenige wählen, die das Gute maximierte und das Böse minimierte, um größtmögliche Gerechtigkeit zu erzielen. Nur dann war eine Handlung moralisch und konnte das Schicksal nach dem Tod – Glückseligkeit oder ewige Qualen – positiv beeinflussen.

Welche Auswirkungen das haben konnte, sieht man deutlich, wenn man sich beispielsweise die im Koran geforderten Strafen für Verbrechen ansieht. Sie bezeichnen nur das Höchstzulässige und hängen von anderen Dingen ab. Bei einem Diebstahl musste beispielsweise der Richter in Betracht ziehen, ob der Täter Reue zeigte, welchen Wert das gestohlene Gut hatte und ob mildernde Umstände existierten. Wenn etwa ein Muslim zum Stehlen gezwungen war, weil er ohne eigenes Verschulden hungerte, dann war in diesem Fall die Gemeinschaft mitschuldig, und die Strafe wurde nicht verhängt.

Wichtig war hier für muslimische Gläubige, dass Absichten mehr zählten als Taten. Wer nur moralisches Handeln predigte, ohne die Absicht zu haben, es auch selbst umzusetzen, lebte nicht nach dem Vorbild Mohammeds. Was dagegen aus dem Herzen kam, wurde durch passende Worte und Taten begleitet, dem sogenannten „Trio aus Herz, Zunge und Tat“.

Wissen

Die Suche nach Wissen ist ein wichtiger Bestandteil im muslimischen Leben, sowohl für Männer als auch Frauen, für den man auch gewisse Mühen auf sich nehmen sollte. So antwortete der Rechtsgelehrte Malik Ibn Anas (8. Jahrhundert) lakonisch, als er von Kalif Harun al-Raschid nach Bagdad gerufen wurde, um dessen Söhne zu unterrichten: „Wissen reist nicht, sondern man reist zum Wissen.“

Der Gott der Muslime

Wenn Muslime Allah anrufen, dann handelt es sich um denselben Gott, den auch Christen und Juden anbeten. Auch ihre Texte basieren auf denselben Schriften wie die beiden anderen Religionen.

Anders als der christliche Gott hat Allah allerdings nicht nur einen oder einige Namen, sondern laut dem Koran gleich 99, darunter der König, der Heilige, die Quelle des Friedens, der Bewahrer der Sicherheit, der Beschützer, der Mächtige, der Überwinder, der majestätisch Große, der Schöpfer, der Macher, der Formbringer, der Vergebende, der Dominante, der Segnende, der Versorger, der Entscheider, der Wissende, der Zurückhaltende, der Freibgiebige, der Demütigende und der Preisende, das Licht der Himmel und der Erde. Da der Koran wie die Bibel Gottes Gnade mehr als seinen Zorn betont, überwiegen in dieser Liste die Namen der Gnade gegenüber jenen des Zorns.

Auch Allah duldet wie der christliche Gott keine anderen Götter neben sich. Tatsächlich ist die größte Sünde im Islam die Beigesellung (schirk), ein Begriff der im Koran häufig mit den polytheistischen Bewohnern Mekkas auftaucht. Wer sich des schirk schuldig macht und sich damit als Ungläubiger (kafir, schlimmstmögliche Anklage für einen Muslim und Schimpfwort für einen Ungläubigen) manifestiert, landet in der nächsten Welt in ewiger Verdammnis in der Hölle. Christen und Juden mit ihrer Dreifaltigkeit sind davon allerdings ausgenommen.

Jede Person hat zwei Schutzengel, die anwesend sind, wann immer Muslime beten (salat). Sie verzeichnen auch die Taten einer Person in einem Buch, das am Tag der Auferstehung von Allah zum Richten verwendet wird.

Die Allgegenwart des Koran

Im Islam liegt ein ganz besonderer Akzent auf der Mündlichkeit. Der Koran ist das schriftlich festgehaltete Wort Allahs, und die Hadithen sind verschriftliche Berichte, Überlieferungen und Äußerungen des Propheten. Aber deren Inhalte wurden und werden tagtäglich nicht nur in Gebeten, sondern auch im Alltag zitiert und rezitiert. Auch heute noch hört ein Kind in islamischen Ländern den Koran überall um sich herum.

Die genaue Auslegung des Koran stellt sich dabei, im Gegensatz zur christlichen Bibel, als viel schwieriger dar, weil der Text anfangs nur mit 15 Zeichen für 28 Konsonanten und ohne Vokale aufgeschrieben wurde. Daher ergeben sich je nach mündlicher Überlieferung mehrere Lesearten und infolgedessen auch Interpretationen des Geschriebenen.

Doch die Verse des Koran waren und sind in der muslimischen Welt nicht nur wortwörtlich in aller Munde. Sie finden auch in der Kalligraphie und Architektur des Islams ihren Ausdruck, indem sie Wände von Moscheen und anderen religiösen Bauwerken, das Tuch des heiligen Schreins in Mekka, in kürzerer Form auch die Eingänge von Schulen, Krankenhäusern und anderen Gebäuden dekorieren. Bestimmte Suren und Verse werden als Glücksbringer auf Amuletten verwendet.

Muslimische Fundstücke

Namen

Wer Karl May gelesen hat, kennt sicher die Figur mit dem meines Wissens längsten Namen in seinen Geschichten: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, von den Eliab auch als Abu Kalilin bezeichnet.

Was auf den ersten Blick undurchschaubar aussieht, stellt sich bei genauerem Hinsehen als genealogischer Stammbaum mit Ehrentitel dar und ist von anderen mittelalterlichen Sprachen, die ebenfalls mit Titel, Vorname, Patronym, Bei- oder Spitzname und Herkunft arbeiteten, gar nicht so weit entfernt. Schlüsseln wir den Namen einmal in seine Bestandteile auf:

Hadschi (für Frauen: Hadscha) ist der Ehrentitel für Muslime, die die Pilgerreise nach Mekka unternommen haben

Halef Omar: ism = Vorname (vom Vater gegeben), nicht notwendigerweise muslimisch

Abu Kalilin: kunya = Beiname für die Eltern beim ersten Kind, kann dem ism vorangestellt werden, Abu (= Vater von)/Umm (Mutter von) Kindesname; Halefs Beiname bedeutet wörtlich „Vater der Wenigen (Haare)“, vereint daher den kunya und den laqab (siehe weiter unten)

Ben/Ibn: nisab = Abstammungsbeiname des Kindes, Ibn (wie in anderen semitischen Sprachen auch „Ben“, Sohn von)/Bint (Tochter von) Name des Vaters oder der Mutter, kann mehrere Generationen enthalten

Abu Kalilin: eigentlich ein kunya (siehe weiter oben), allerdings in diesem Fall vom Inhalt her eher der arabische Namensbestandteil laqab = Ehren-/Spitzname(n), nicht notwendigerweise in Arabisch

Abul Abbas und Dawuhd al Gossarah sind die Namen seines Vater bzw. Großvaters, die ebenfalls die Pilgerfahrt erfolgreich abgeschlossen haben und daher auch den Ehrentitel tragen.

Nisba, das letzte Element arabischer Namen, das die Herkunft der Person bzw. Stammesverbindungen oder Beziehung zu einer Rechtsschule bezeichnet, fehlt bei Halef.

Arabische Aussprüche im Mittelalter

Noch immer kennen und nutzen Muslime noch Formeln, die ihre Vorfahren bereits im Mittelalter zu verschiedenen Gelegenheiten verwendeten. Dazu gehören unter andem die folgenden drei:

Der Ausdruck „Allahu akbar“ (Allah ist größer [als alles andere]) ist ein wiederholter Teil des Gebetsrufes des Muezzin sowie der Pflichtgebete. Er kann auch als Ausruf des Erstaunens oder der Billigung dienen, ähnlich wie wenn Christen erleichtert „Gott sei Dank“ sagen.

Ebenfalls bekannt war die formelle arabische Grußformel „Salam alaikum“ (Friede sei mit Euch), auf die mit „Wa alaikum as salam“ (Friede sei auch mit Euch) geantwortet wird. Die Formel entspricht dem hebräischen „Schalom aleichem“ / „Aleichem schalom“ bzw. dem „deutschen“ „Pax vobisum“ / „Et cum spiritu tuo“. Alle Begrüßungen stammen aus dem Koran, dem Talmud und der Bibel, doch während Muslime und Juden die Begrüßungen seit dem Mittelalter in ihrem täglichen Leben verwenden, ist – und war – die deutsche Formel dem Klerus bzw. dem Gottesdienst vorbehalten. Im mittelalterlichen Französisch gibt es meines Wissens überhaupt keine Entsprechung für eine derart standardisierte und von jedermann genutzte Grußformel.

Die dritte und im Koran oft mit zukünftigen Ereignissen erwähnte Redewendung lautet „inschallah“ (Wenn Allah will), welches Muslime beim Sprechen über ein zukünftiges Ereignis, das möglicherweise eintreten wird, anhängen. Wie wichtig dieser Zusatz ist, zeigt sich an dem Bericht über den Propheten , der sein Versprechen nicht einhielt, weil er vergessen hatte, es unter dem Vorsatz des „inschallah“ zu geben. Nicht der Mensch entscheidet, ob und dass etwas geschieht, sondern alleine Allah.


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Über die Autorin

Birgit Constant

Birgit Constant ist promovierte Mediävistin, hat elf Sprachen gelernt und arbeitet seit 2014 als freie Autorin, Texterin und Lektorin in Landshut. Sie schreibt historische Romane für Leser, die geschichtlich und sprachlich ins Mittelalter eintauchen wollen, und hat einen Ratgeber für Nachwuchsautoren veröffentlicht.

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  • Die drei arabischen Redewendungen kannte ich zwar, aber ich wusste nicht genau, was es mit ihnen jeweils auf sich hat. Sehr interessant, ebenfalls die Übersetzung des Namens. Nach der Lektüre Ihrer Blogartikel, liebe Frau Konstant, bin ich immer ein bisschen klüger! Danke.

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